DORFLEBEN
Wildnisfarm: Ein Hauch von Skandinavien im Solling
Dancer, Donner, Blitz und Rudolph – keineswegs. Johann, Ivar, Saja und Helena heißen die Helfer des Weihnachtsmannes und sie wohnen auch nicht am Nordpol, sondern im schönen Süd-Niedersachsen in Silberborn. Niedlich stupsend fressen die Rentiere mit ihren weichen Lippen Flechten aus meiner Hand und tapsen mit ihren breiten Hufen – so versinken sie weniger im Schnee – durch die frostige Winterlandschaft.Ihnen so aus nächster Nähe zu begegnen, ist schon etwas ganz Besonderes. Axel Winter macht diese einzigartigen Begegnungen auf seiner Wildnisfarm Wildguide im Landkreis Holzminden seit dem Jahreswechsel 2020/2021 möglich.
Zehn der niedlichen Weihnachtsmann-Helfer, die hauptsächlich in den nördlichen Teilen Nordamerikas und Eurasiens vorkommen und zu den am weitesten nördlich lebenden Großsäugern gehören, hält er im Solling – vier Bullen und sechs Kühe, davon ein kleines Kalb, was im Mai geboren ist. „Insgesamt gibt es nur 150 Rentiere in Deutschland, die meisten in Zoos und Tierparks“, erzählt der Erlebnis- und Wildnisspädagoge und zupft ein letztes Stück Bast vom Geweih eines der Tiere.
Stundenlang könnte man sie anschauen, mit ihrem prächtigen „Kopfschmuck“ und dem kuschelig dicken Fell, das sie fast aussehen lässt wie Stofftiere. Doch einer ist ja nackig auf dem Kopf. „Ja, stimmt. Johann hat sein Geweih schon verloren“, erklärt der 39-Jährige, „das passiert immer vor Weihnachten. Und das Interessante ist, dass er damit auch seine Stellung als Platzhirsch in der Gruppe los ist. Das ranghöchste Weibchen mit Kalb führt nun die Herde.“
Denn Rentiere sind die einzige Hirschart, bei der beide Geschlechter ein Geweih tragen. Während das der Bullen bis zu 22 kg wiegen kann, ist das der Kühe mit bis zu drei Kilogramm um einiges leichter. Die Herren werfen es nach der Brunft (August bis November) ab, die Damen lassen sich bis ins nächste Frühjahr damit Zeit. Ab April/Mai wächst es bei beiden Geschlechtern wieder neu.
Mit diesen sanftmütigen Tieren, die mit einem Stockmaß von bis zu 130 Zentimeter viel kleiner sind, als man denkt, bietet Axel Winter, unterstützt von der Region Solling-Vogeler, der Jugendherberge Silberborn und den Niedersächsischen Landesforsten tierische Erlebnisse an. Von Rentiertrekking, also mit den Tieren durch den Solling wandern, über Rentiere füttern oder ein Rentier-Fotoshooting bis hin zu einer Übernachtung bei den Tieren können Outdoorbegeisterte und Naturverbundende wählen. Bei Letzterem schläft man in einem möblierten (beheizbaren) Glamping-Zelt und kann die Rens hautnah miterleben. Bei all seinen Angeboten steht das Erleben der Natur und in Kontakt treten mit dem Tier im Vordergrund.
„Die Welt wird immer hektischer und lauter, da möchte ich Leute für das Draußen-Sein begeistern, ihnen ermöglichen ‚tierisch‘ die Natur zu erleben“, erklärt der hauptberufliche Familienhelfer und hofft, sich eines Tages ganz um seine Tiere und Gäste kümmern zu können. So endet sein Portfolio auch nicht mit den Rentieren, sondern er bietet ebenso Huskytrekking, Hundeschlittentouren, Dogscootertouren (ein Tretroller, der von den Hunden gezogen wird) und Messerbaukurse an. Aber auch so individuelle Sachen wie Tierpfleger für einen Tag, ein Dogtrekking-Grundkurs für Hundehalter oder eine einjährige Ausbildung zum Wildnispädagogen oder Survivalexperten sind sein Steckenpferd.
Wie jeder Landwirt weiß, ist die Arbeit mit Tieren und der Natur die schönste, doch wieso fiel die Wahl ausgerechnet auf Rentiere und Huskys? „Ich bin viel gereist, viel nach Skandinavien, mich hat die dortige Flora und Fauna fasziniert“, erzählt er. „Aber auch da sind noch menschliche Einflüsse spürbar, Stromleitungen zu sehen oder Lärm zu hören. So habe ich mir meinen Traum erfüllt und bin für neun Monate nach Alaska gegangen.“ Erst mit einem Freund, dann allein, zu Fuß und mit dem Kanu wurde das Land erkundet und die Schönheit der Wildnis genossen. Nicht selten konnte er Bären, Adler und Elche beobachten.
Weihnachten 2010 strandete er auf einer Huskyfarm mit 54 Hunden und durfte sich dort auf einer Plattform im Schnee und Eis selbst ein kleines Blockhaus bauen. Auf diesen 16 Quadratmetern mit Dieselheizung hat er überwintert und die jungen Hunde trainiert, die noch nicht mit auf Schlittenfahrten unterwegs waren. „Diese ganzen Erfahrungen haben mich nachhaltig beeindruckt und verändert“, gesteht er. Fast jeden Abend zeigte sich die Schönheit der Polarlichter, tagsüber schien die Sonne auf die bis zu -60 Grad beeindruckende Winterwunderlandschaft. „Da war mir klar, dass ich solche Einblicke auch anderen Menschen ermöglichen möchte.“
Schnelle Powerpakete
Schritt für Schritt setzt er, der damals bei der Bundeswehr in Holzminden war, seine Idee in die Tat um und kaufte aus Polen, Russland, Frankreich, der Schweiz Huskys. Gerade ist er Hundevater von zwölf felligen Schönheiten, vier weiblichen und acht männlichen Tieren. Die Rudeltiere, die bis zu 28 kg auf die Waage bringen, sind so anpassungsfähig, dass auch sie das ganze Jahr draußen gehalten werden. Und nicht nur das, es sind auch echte Muskelkerle. Aus dem Stand kann ein Husky 260 kg ziehen, natürlich nicht weit. Aber so hat man eine ungefähre Vorstellung mit wie viel Power die Hunde mit dem Schlitten durch den Schnee brausen. „Je nach Länge der Strecke und Anzahl der Personen benötigt man unterschiedlich viele Tiere“, erklärt der Tierfreund. „Huskys lieben einfach Bewegung und Zugarbeit.“ So reist er auch regelmäßig mit ihnen nach Skandinavien und fährt ausdauernde Schlittentouren durch die Wildnis.
Parallel zum Aufbau des Rudels telefonierte Axel Winter Rentierzüchter in Deutschland ab, doch niemand hatte Tiere abzugeben. 2017 klingelte dann sein Telefon, ein Züchter würde ihm seine Herde überlassen – einziges Problem: Sie müssten innerhalb der nächsten zwei Wochen umziehen. Zum Glück hatte das Wisentgehege in Springe Platz, so kam er dort erstmal mit den Tieren unter, bis er alle in das heutige Wildguide-Camp zwischen der Jugendherberge Silberborn und dem Klettergarten umsiedelte.
Und wo Santas Helferlein momentan Schnee und Forst genießen, denn Winter ist ja ihre Jahreszeit, schließlich leben sie seit Urzeiten in der Tundra und Taiga. Doch wie finden sie den niedersächsischen Sommer? „Generell macht Wärme ihnen nichts aus, ihr Fell funktioniert wie eine Thermoskanne“, so der Experte, „es besteht aus Röhrenhaaren, die innen hohl sind. Im Sommer lässt es die Hitze nicht an den Körper und im Winter die Kälte nicht.“ So sind Temperaturen von -40 Grad kein Problem.
Eine weitere Eigenschaft, wieso Rentiere so hoch im Norden gut zurechtkommen, sie fressen Flechten, also die Arbeitsgemeinschaft zwischen einem Pilz und einer einzelligen Alge, die die lebensfeindlichsten Orte besiedeln können. Das ist in freier Wildbahn ihre Hauptnahrung im Winter. Außerdem sind sind gute Wanderer, bis zu 3.000 Kilometer pro Jahr legen sie bei ihrer Nahrungssuche zurück.
Das Leckerli Flechte nutzt auch Axel Winter, um die Tiere an ihn und seine Besucher zu gewöhnen, sodass sie aus der Hand fressen und neben einem durch den Solling wandern. Auch mit Neuzugängen, wie Findus, der gerade aus dem Osnabrücker Zoo zu Besuch ist und wofür im Gegenzug Johann dort bald auf Flitterwochen gehen wird, damit es mit der Rentierzucht vorangeht, hat es gut geklappt. Neben Flechten bekommen die Wiederkäuer noch Pellets, Heu, Laub von Bäumen und Kräuterwiesen-Gras zu fressen.
Anfällig für Krankheiten
Klingt doch eigentlich alles ganz einfach, wieso gibt es denn dann nur 150 Tiere in Deutschland? „Rentiere sind kompliziert in der Haltung. Sie brauchen viel Platz, 1.000 qm pro Tier und sie sind sehr anfällig gegenüber Parasiten, Zecken und Mücken und somit für Krankheiten wie Anaplasmose.“ Auch er hat schon Tiere an die parasitäre Viruserkrankung verloren. Deshalb beobachtet er viel, schon die kleinsten Abweichungen im Verhalten können Anzeichen sein. Seine Faustregel: „Wenn der Arsch schmal wird, stimmt was nicht.“ Gesunde Tiere werden 12 bis 15 Jahre alt.
Neben den anmutigen Rentieren und hübschen Huskys fühlen sich außerdem auch noch Zwergenten, Lohkaninchen, schwedische Blumenhühner, Deutsch Kurzhaar-Jagdhund Tillmann und Neuzugang Merle, ein Wüstenbussard auf dem weitläufigen Areal wohl. Wer also noch ein besonderes Präsent sucht, wie wäre es mit einer Tierpatenschaft? Auch das ist ein Angebot der Wildnisfarm und sowohl einige Rentiere als auch Huskys sind noch „nicht vergeben“. Sobald die fleißigen Weihnachtsmann-Helferlein wieder gut in Silberborn vom Geschenke ausfliegen gelandet sind, freuen sie sich auf Paten, Besucher und Neugierige.
TIPP
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