Karlas Karriere

Aber Henriette, obwohl sie mit neun Jahren ein biblisches Hühneralter erreichte, lebte leider nicht ewig. Josephine, die lackschwarze, rundliche Nachfolgerin, hat es mehr mit der Bequemlichkeit als mit dem Konfliktmanagement und lässt die Jüngeren unbehelligt, solange ihr selbst gebührend Respekt gezollt wird. So hatten sich die Damen ausgesprochen ruppige Manieren angewöhnt. Vor allem die kleine, blitzschnelle und ausgesprochen zänkische Twiggy und die stämmige, ranghohe blaue Ophelia, die trotz ihres romantischen Namens ein regelrechter Rüpel ist, taten sich hervor. Beim geringsten Anlass wurde derart gezickt und gezetert, gekniffen und gehackt, dass ich mir inständig einen energischen Gockel als Ordnungsfaktor wünschte. Den darf ich hier nur leider nicht halten.

Dafür zog noch eine Henne ein. Unser netter Züchter, dem nicht entging, wie sehr ich nicht nur Henriette selbst, sondern auch ihrer wunderschönen, leuchtenden Goldfarbe mit dem schwarzen Spitzenkragen nachtrauerte, überließ uns eine ihrer Verwandten. Die Einjährige war bei ihm zusammen mit zweien meiner Hennen aufgewachsen. Doch während Alba und Olivia, die Weiße und die Blaue, zu uns umgezogen waren, hatte die Gelbe daheim für Bruteier gesorgt – als Lieblingshenne des Gockels. Das hatte ihr nicht nur ein zerrupftes Rückengefieder, sondern deshalb auch den respektlosen Namen „Kahla“ eingetragen. Beim Umzug wurde natürlich Karla daraus, und obwohl ihr Züchter warnte: „Die Gelben können so’n büschen dominant sein“, tat es mir leid, eine einzelne Henne so allein der ganzen Bande vorzuwerfen.

So kann man sich täuschen. Karla verlor keine Zeit, den Unterschied zwischen einem unerfahrenen Jungvogel und einer gestandenen Henne klarzustellen. Sie spazierte selbstbewusst direkt auf die anderen zu. Die giftige kleine Twiggy kam sofort angeschossen, um der Neuen eine Abreibung zu verpassen, erlebte aber eine böse Überraschung und zog sich empört zeternd zurück. Ein paar Federchen segelten zu Boden, während Karla hoch aufgerichtet weiter zum Futternapf stakste und sich lässig bediente. Nach so einem Einstand war die Zurückhaltung der anderen auffallend: Sie beäugten die resolute Neue mit langen Hälsen und einer ratlos klingenden „Goook!“- Konversation, aber es dauerte Minuten, bis sich Ophelia zur nächsten Attacke entschloss. Diesmal war die Prügelei kürzer und endete mit Karlas Rückzug, aber geschlagen gab die sich damit nicht. Sie wich ihrer Kontrahentin einfach aus, umkreiste den Napf und fraß von der anderen Seite weiter. Und Josephine, die Chefin? Karla und sie standen einander einen Moment lang gegenüber wie im Showdown eines Westerns: Beide hoch aufgerichtet, unheilverkündend starr, statt gezückter Colts drohend gesenkte Flügel – und drehten dann synchron ab, sie taten so, also sei die andere gar nicht vorhanden.