Einst nur ein Geräteschuppen
Ein Ort der Harmonie
Dass eine Jagdhütte vom äußeren Erscheinungsbild nicht unbedingt als Filmkulisse für einen schnulzigen Heimatfilm taugen muss, sondern durchaus getrost nur den weniger ansprechenden Charme eines Geräteschuppens haben darf, damit man sich darin wohl und aufgehoben fühlt, zeigt die Grafenhütte. Alleine ihr Name ist ja schon ein Widerspruch in sich. Grafenschloss ja, aber Grafenhütte? Gibt das denn einen Sinn? Unter der Hütte eines Grafen stellt man sich landläufig doch eher ein gediegeneres Bauwerk mit einer gewissen Größe vor. Ihren Namen hat meine Hütte von dem Waldgebiet, in dem sie ihr bescheidenes Dasein fristet, dem Grafenwald. Und der ist wiederum benannt nach dessen früheren Besitzern, den Grafen von Formbach, die um 1488 ganz in der Nähe ihren Stammsitz hatten.
Wann die Grafenhütte wirklich zusammengezimmert wurde, weiß ich nicht, vielleicht vor sechzig oder mehr Jahren, sicherlich aber nicht schon zu Zeiten der oben erwähnten Grafen. Wenngleich sie bei der Übernahme durch mich einen derart maroden Eindruck machte, dass man das durchaus hätte glauben können. Sie hatte also nie die Aufgabe, einem edlen Grafen nach der Jagd als Unterschlupf zu dienen. Anstelle dessen war sie vielmehr ein Schuppen zur Aufbewahrung von Hacken, Hauen und anderen Gerätschaften der Waldarbeiter, die man für die Arbeit in einem ehemals hier gelegenen Pflanzgarten benötigte.
Als ich dann vor fast vierzig Jahren damit begann, den Schuppen, oder wie man hier im Bayerischen sagt „die Schupfa“, wieder notdürftig bewohnbar zu machen, fügte es sich, dass gerade zu dieser Zeit mein Freund Carl, ein Sägewerkler und Produzent von Tonholz und Resonanzböden für den Bau von Konzertflügeln, eine Charge feinster, astfreier Bretter wegen kleiner Mängel nicht verwerten konnte und sie mir deshalb zur Innenverkleidung der Hüttenwände vermachte. In wenigen Tagen verwandelten Carl und ich die „Schupfa“ sozusagen in ein zauberhaftes, akustisches Kleinod, das wohl damals wie heute seinesgleichen sucht.
Jene Bretter waren von ausgesuchten, langsam über viele Jahrzehnte auf den zugigen Höhen des Bayerischen und des Böhmerwaldes gewachsenen Fichten. Geschnitten und handverlesen und ursprünglich dafür gedacht, um irgendwo auf der Welt in irgendeinem Konzertsaal den Klang von Mozarts oder Chopins Klavierwerken zu verstärken und raumfüllend zu verbreiten. Nun fanden sie in einem kleinen Schuppen Verwendung, um den Innenwänden ein schöneres Aussehen zu geben. Wie sich doch so manche Dinge ändern.
Es dauerte nicht lange, bis sich ganze Familienverbände von Siebenschläfern in den Hohlräumen hinter der Wandverkleidung ansiedelten, um dort in einem Bett aus weichem Moos im Tiefschlaf den kalten Winter zu verbringen. Wenn sich die Bilche im Herbst dort einrichteten, ist ein durch das Resonanzholz verstärktes Knistern und Kratzen nicht zu überhören. Und wenn die menschlichen Gäste der Hütte ganz still waren und ein Ohr an die Wand legten, glaubten sie sogar, die kleinen Schläfer atmen zu hören. Ob jemals Mäuse oder Bilche in einem Klavier überwintert haben, ist mir zwar nicht bekannt, aber alleine die Vorstellung, wie sie bei der nächsten Klavierstunde unsanft mit einem lauten Schall aus dem Schlaf gerissen werden, ist doch recht amüsant. Diese Sorge brauchen sich meine Bilche jedoch nicht zu machen.
Von vielen Menschen liebgewonnen
Für unsere damals noch kleinen Kinder waren die Hütte und die stets sumpfige Umgebung des Grafenwalds ein sehr beliebter Abenteuerspielplatz. Schnecken in allen Variationen, Größen und Farben fanden als Spielzeug ebenso Verwendung wie Frösche und Kröten, die mit Namen belegt und sorgsam gepflegt und gehätschelt, schließlich neben Blumen, Wurzeln und Kieselsteinen als Handelsware im improvisierten Kaufladen über die Theke gingen.
Auch meine Jagdfreunde und Jagdgäste gewannen nach anfänglicher Skepsis die kleine Hütte sehr schnell lieb und kamen immer wieder gerne zu ihr zurück – wenngleich das aufklappbare Feldbett und die von Mäusen schon arg ramponierte gepolsterte Eckbank wenig Komfort versprachen. Michael Lewicki, der leider so früh verstorbene ehemalige Chefredakteur der PIRSCH, hielt sich hier nach erfolgreicher Jagd ebenso gerne auf wie der auch schon in den ewigen Jagdgründen weilende, freiherrlich Cramer-Klett’sche Jäger Wolfgang Wörndl und mein verstorbener, väterlicher Freund und Lehrer, der Maler Walther Niedl.
Das in der Tischschublade verwahrte Schreibheft, welches mir und meinen Gästen als bescheidenes, doch bald vor Erinnerungen strotzendes Hüttenbuch diente, haben irgendwann die Mäuse so stark zerfleddert, dass es nicht mehr zu retten war. Aber die Erinnerung an die lieben Jagdfreunde bleibt, und das ist das Wichtigste. Ein ganz besonderer Dank und Gruß zum Abschied findet sich noch heute mit Kugelschreiber schwungvoll auf die Bretterwand geschrieben:
"Für meine geliebten Freunde. –Wie wunderbar, dass ich endlich wieder bei Euch sein darf.
– Kinder, Hunde, Liebe, Harmonie. Dank Margot – 31. Januar 1996"
Diese Botschaft, die mich immer wieder erfreut und gleichermaßen bewegt, stammt von keiner Geringeren als von der bekannten Entertainerin, Tänzerin, Schauspielerin und Sängerin Margot Werner, mit der unsere Familie seit vielen Jahren eine herzliche Freundschaft verband. Oft besuchte sie uns zusammen mit ihrem Mann Jochen Litt, wenn es ihre Zeit zwischen den zahlreichen Auftritten mit dem Pianisten Max Greger jun. oder dem Bolschoi Symphonieorchester erlaubte. Es tat beiden gut, wenn sie sich auf dem Land, fernab von Bühne und Scheinwerferlicht ein wenig erholen konnten.
Unsere Kinder, Hunde und Pferde hatten es ihnen besonders angetan und natürlich auch die herrliche, noch weitgehend unberührte Natur in meinem Revier. Bei Spaziergängen durch den Wald und auch bei Besuchen in der Grafenhütte lernten wir mit der so gerne als Diva bezeichneten Sängerin einen unglaublich herzlichen, klugen, sehr gläubigen und ganz besonders naturverbundenen Menschen kennen. Keinem noch so kleinen Lebewesen hätte sie etwas zuleide tun können, und dennoch zeigte sie ein äußerst großesVerständnis für die Jagd. Für das Birkwildprojekt in der Rhön zum Beispiel gab sie als Botschafterin ebenso ihren berühmten Namen her wie für die Öffentlichkeitsarbeit des Bayerischen Jagdverbandes (BJV) auf der Messe „Jagen und Fischen“.
Bei ihrem letzten Besuch in der Grafenhütte im Jahr 1996 war sie so angetan von der zauberhaften Stimmung und voller Begeisterung für die Natur, dass sie spontan, sozusagen als Erstaufführung eines ihrer neuen, bis dahin noch nicht veröffentlichten Lieder anstimmte. Ein Klavier und einen Pianisten hatten wir nicht zur Verfügung, aber das einst für das Handwerkszeug von Pianisten geschnittene Resonanzholz hatte endlich einen ehrenvolleren Auftrag, als nur für Siebenschläfer einen Unterschlupf zu bilden. Die Wandverkleidung sorgte für eine Akustik, wie man sie in einer so kleinen Hütte wohl nie erwartet hätte. Es war ein ganz besonderes Erlebnis in dieser bescheidenen Umgebung, plötzlich die Stimme der Künstlerin mit ihrem unvergleichlichen Timbre zu hören, und man spürte, wie sehr es Margot Freude bereitete, mit dem Lied ihrer Begeisterung Ausdruck zu verleihen und uns zu danken.
"Hab tausend Dank du schöne Welt Für Berg und Tal, für Wald und Feld Für jeden Stern am Himmelszelt Hab tausend Dank du schöne Welt. Ein Fluss der lautlos zieht auf seinem Weg so leer. Ein Vogelschwarm im Wind. Wer weiß wohin, woher? Ein Lindenbaum der blüht, ein Freund aus alter Zeit. Für all das dank ich dir du schöne Welt."
Ein einfacher Text nur, und dennoch macht er uns die kleinen, unscheinbaren Dinge, die Wunder der Natur bewusst und mahnt uns, sie nicht als allzu selbstverständlich zu empfinden, sondern dafür dankbar zu sein und uns in Demut zu üben. Margot Werner ist im Jahre 2012 für uns alle unfassbar und plötzlich aus dem Leben geschieden. Das Gedenken an sie wird in unseren Herzen wachgehalten. Und auch in der Hütte, wo sie ihre Liebe zu unseren Kindern und Hunden, zur Natur und zur Harmonie so bescheiden und dennoch eindrucksvoll bekundete, ist sie für immer präsent.
Heute – Ein Reich des Siebenschläfers
Seit vielen Jahren dient die Hütte nun nur noch als Treffpunkt zum Aufwärmen nach gemeinschaftlichem, morgendlichem Ansitz. Ein kleiner Kanonenofen heizt die Bude innerhalb weniger Minuten auf, und dampfender Tee zaubert sofort jene unvergleichlich schöne Hüttenromantik, wie wir Jäger sie lieben.
Im Sommer verschwindet die Hütte dann aber in einem Meer aus Brennnesseln und Springkraut, macht sich fast unsichtbar und bietet dem Waldkauz unter dem Dachvorsprung bis zum Sonnenuntergang ein Schlafplätzchen. Die Siebenschläfer haben längst die ganze Hütte erobert und tanzen förmlich auf Tisch und Bank, sehen einen mit ihren glänzenden großen Kulleraugen entrüstet an, wenn man sie mit dem Strohbesen sanft bewegen will, das Feld zu räumen.
Hin und wieder stößt ein Pilzsammler auf seiner Kreuz-und-Quer-Suche eher zufällig auf die Grafenhütte und lässt sich davor nieder, um seine Funde zu putzen. Die Hüttentüre ist aus Nachlässigkeit oft nicht verschlossen, und dennoch hat noch nie ein Unbefugter die Schwelle überschritten, geschweige denn hat sich irgendein Landstreicher je gewaltsam Zutritt verschafft. Warum auch? Ist ja nur „a Schupfa“!
- Hüttenromantik? Ja, bitte! Aber mit Vorsicht. Vor allem der Hanta-Virus macht vielerorts zu schaffen. Für nähere Infos darüber unter www.bergjagd-magazin.de
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