Von echten Preisen und gefühlten Wahrheiten
Auf den Punkt
- Die Getreideernte 2021 soll in den USA, in Russland und Europa groß ausfallen.
- Die Börsen reagieren auf die Prognosen mit einem deutlichen Preisrückgang.
- Das Wetter kann den Markt in den Monaten nach der Ernte jedoch noch komplett drehen.
Es ist wie immer: Vor der Ernte fallen die Getreidepreise. Dabei war doch bis vor Kurzem noch alles extrem knapp, und die Notierungen waren dementsprechend hoch. Große Importeure wie China haben beinahe jeden Preis gezahlt. Nun hat sich das Blatt für die Ackerbauern scheinbar komplett gewendet. Die Preise fallen und fallen, als ob Weizen, Gerste, Raps oder Mais über- reichlich vorhanden wären. Das ist aber keineswegs der Fall. Noch stehen die Zahlen zur neuen Ernte nämlich nur auf dem Papier. Sie sind einfach Prognosen, doch – und das ist die Crux – sie wirken wie Fakten.
Laurent Crastre vom Analystenhaus Strategie Grains ist überzeugt: „Die Zeichen stehen ziemlich günstig. Ernte und Versorgung in Europa werden sehr gut sein.“ Das sehen andere Analysten auch so und drücken damit mächtig auf die Preise. Das Problem für die Bauern ist dabei: Gäbe es diese Prognosen nicht, wäre ihnen auch nicht geholfen. Sie würden im Dunkeln tappen und wären den Getreidehändlern ausgeliefert.
Die Zeichen stehen ziemlich günstig. Ernte und Versorgung in Europa werden sehr gut sein.
Doch warum ziehen die Prognosen die Getreidepreise so weit nach unten? Wird die neue Ernte wirklich so groß oder was steckt dahinter? Will man als Ackerbauer nicht an die gängigen Verschwörungstheorien glauben – etwa in der Art, dass das US-Landwirtschaftsministerium (USDA) die Märkte manipuliert –, dann muss es noch andere Erklärungen geben. Diese zu finden, ist aber gar nicht so einfach. Es ist nämlich ein ziemlicher Mix aus echten Fakten und einer ordentlichen Portion Psychologie.
Was wirklich angebaut wurde
Eine Sache ist in den meisten Ländern, die für den Getreidemarkt wichtig sind, früh bekannt: die Anbauflächen für die neue Ernte. Das gilt zunächst einmal für die Wintersaaten an Weizen, Raps und Gerste, etwas später dann aber auch für Sommergetreide, Mais und Soja. Alle Anbaudaten sind also bekannt. Denkt man jedenfalls. Doch das ist offenbar ein Irrtum.
In den USA streitet man jedenfalls seit Beginn der Frühjahrsaussaat heftig über die wirklichen Anbauflächen von Mais, Soja und Sommerweizen. Der Grund ist, dass die Aussaat witterungsbedingt sehr spät erfolgte bei damals sehr hohen Marktpreisen. Deshalb blieb unklar, auf welche Kulturen die Farmer aus wirtschaftlichen Gründen am Ende setzen. Dabei geht es nicht gerade um Peanuts, sondern um mehrere Hunderttausend Hektar für die eine oder andere Kultur. Das sorgt natürlich für Spekulationen und ist zugleich Treibstoff für die Getreidepreise – weltweit.
Ein Zwischenergebnis über die Aussaatflächen brachte der USDA-Anbaureport von Ende Juni. Der war eine echte Überraschung. Nach den Befragungen des US-Ministeriums hatten die Farmer nämlich viel weniger Mais und Soja bestellt, als der Markt erwartet und eingepreist hatte. Die Terminmärkte reagierten prompt – mit einem erneuten Preisanstieg. Der brachte zwar noch nicht die erhoffte Trendwende, jedoch eine deutliche Zwischenerholung.
Terry Reilly, Senior Commodity Analyst bei Futures International, sagt dazu: „Offensichtlich war der Markt von deutlich größeren Flächen ausgegangen, die aber von den Farmern nicht realisiert worden sind.“
Reilly weist jedoch auf noch eine Sache hin, die die meisten Analysten bei der Beurteilung der geänderten Anbaudaten gern übersehen: Trotz der aktuellen Korrekturen sind die Anbauflächen sowohl bei Mais als auch bei Soja nämlich noch immer deutlich größer als im vorigen Jahr.
Das Wetter entscheidet alles
Erheblich stärker als die Anbaufläche wirkt ein anderer Faktor auf die Getreidepreise, und das ist das Wetter. Sowohl in den USA als auch in Europa und Russland hat ein sehr kaltes und nasses Frühjahr die Aussaat über Wochen verzögert und möglicherweise auch das Wintergetreide geschädigt. Im Juni war es dann in weiten Teilen der USA und Kanadas extrem heiß und trocken. Unklar blieb, wie sehr Getreide und Canola unter der extremen Hitze gelitten haben.
„Das Wetter steht weiter im Mittelpunkt und es war und wird auch in den nächsten Wochen nicht perfekt“, sagt Ted Seifried, Chef-Stratege der Zaner Group. „Wir haben einfach nicht das Versorgungspolster, von dem wir dachten, dass wir es hätten“, begründet Seifried die gewaltige Nervosität an den Märkten.
Fakt ist jedenfalls: Die Einschätzung des USDA für Mais, Soja und Sommerweizen wurde Woche für Woche schlechter. „Eine Rekordernte ist deshalb auch bei großer Anbaufläche nicht zu erwarten“, sagt Seifried. Bei Sommerweizen und Canola sind die Hitzeschäden in den USA und Kanada zudem erheblich, wie sich inzwischen herausgestellt hat. Das zeigen auch die Börsenkurse an: Für nordamerkanischen Sommerweizen wurden Anfang Juli entgegen den fallenden Kursen bei den anderen Getreidearten neue Rekordpreise notiert. Der Markt geht also bei sehr proteinreichem Weizen von einer sehr schlechten Ernte in den USA und Kanada aus.
Die Musik spielt in Russland
In den USA ist bei Mais und Soja also vieles noch offen. Und die Ernte von Sommerweizen wird schlecht. Die Ernte von Winterweizen hatte in den USA und in Russland Ende Juni begonnen. Vom Schwarzen Meer kommen für die Weizenpreise aber überhaupt keine guten Nachrichten. Die Prognosen für die neue Weizenernte sind – sowohl für Russland als auch für die Ukraine – sehr hoch, um nicht zu sagen rekordverdächtig.
Russland wird jedoch trotz der hohen Ernteprognosen weiter Exportzölle erheben, sagt Landwirtschaftsminister Roman Nekrasow. Damit dürfte der Top-Exporteur seine Wettbewerbsfähigkeit verschlechtern und den Europäern in die Karten spielen. Analysten gehen trotzdem von einer großen Dominanz der beiden Schwarzmeerländer beim Export von Weizen und Gerste im neuen Wirtschaftsjahr aus. Diese Konstellation wird die Exportpreise für beide Getreidearten maßgeblich beeinflussen und damit auch die Preise am europäischen Binnenmarkt – denn die Russen sind unser wichtigster Wettbewerber.
Die russischen Analysten von Sovecon und Dmitry Rylkow von IKAR schätzen die russische Ernte auf etwa 83 bis 85 Mio. t und damit nur wenig kleiner als die Rekordernte aus dem vorigen Jahr. Das USDA rechnet sogar mit einem neuen Rekord von 86 Mio. t. Der Grund ist einfach: Die Russen haben die Anbaufläche von Winterweizen um etwa 400.000 ha ausgedehnt und die derzeitigen Ertragsprognosen sind höher als die Erträge aus dem vorigen Jahr.
Ukraine peilt Rekordernte an
Nach Meinung der meisten Analysten werden die Russen deshalb mehr Weizen exportieren können – trotz der Exportsteuer. Das USDA rechnet mit russischen Weizenausfuhren von 40 Mio. t. Das wäre deutlich mehr, als die Europäer mit rund 33 Mio. t schaffen können.
Was die Ukraine betrifft, hält das USDA bei Weizen ebenfalls eine Rekordernte von knapp 30 Mio. t für möglich. Auch hier bildet die Ausweitung der Anbaufläche auf über 7 Mio. ha die Grundlage für diese sehr hohe Ernteschätzung. Die Prognosen ukrainischer Analysten und von Landwirtschaftsminister Roman Leshenko liegen nur knapp darunter. Bei Gerste kommen vom Schwarzen Meer ebenfalls hohe Ernte- und Exportprognosen – die allerdings nur in der Ukraine über dem Vorjahr liegen. In beiden Schwarzmeerländern hat die Ernte von Wintergetreide etwa Ende Juni begonnen, und damit später als üblich.
Wichtig für den europäischen Markt ist noch eine anderer Umstand, nämlich die Maisernte in der Ukraine. Der Schwarzmeeranrainer ist der wichtigste Maislieferant der EU. Hier gehen die ukrainischen Prognosen von einer Anbauausweitung, hohen Erträgen und einer Rekordernte aus. Auch diese Daten stehen bisher aber nur auf dem Papier und das Wetter muss die nächsten Wochen erstmal mitspielen.
Frankreich flutet den Markt
Aber zurück nach Westeuropa: Hier wird die neue Ernte von Weizen deutlich größer als im vorigen Jahr, sagen die EU-Kommission und auch das USDA voraus. Der Hauptgrund liegt jedoch nicht so sehr in hohen Hektarerträgen. Verantwortlich ist vielmehr die kräftige Ausweitung der Anbaufläche beim Top-Produzenten Frankreich.
Vor zwei Jahren hatte widriges Wetter im Herbst die Aussaat von Wintergetreide in Frankreich massiv behindert. Am Ende hatte das dort eine sehr kleine Weizenernte nach sich gezogen. In diesem Jahr liegen die Dinge anders. Die Kommission schätzt die EU-Aussaatfläche für Winterweizen auf reichlich 21 Mio. ha und damit rund 300.000 ha größer als vor einem Jahr. Dabei haben die Franzosen 650.000 ha mehr mit Weizen bestellt – was jedoch durch Anbaurückgänge in Polen und Tschechien etwas ausgeglichen wird. Auch in Deutschland haben die Bauern etwas mehr Weizen angebaut.
Noch kann alles passieren
Ende Juni hat die Kommission ihre Ernteprognose für Winterweizen, anders als von vielen Analysten erwartet, leicht zurückgenommen auf knapp 127 Mio. t. Der Grund für die Korrektur lag in der Hitzewelle im Juni. Temperaturen von deutlich über 30 °C haben dem Weizen in Frankreich und in Deutschland zugesetzt, vor allem in Regionen, wo der Regen zuvor knapp war – wie etwa in Ostdeutschland.
Trotzdem: Mit dieser Prognose würden die Europäer rund 9 Mio. t Weizen mehr ernten. Außerdem könnten sie mehr exportieren, nämlich ingesamt 30 Mio. t, schätzt die Kommission. Das wären 3 Mio. t mehr als in der vorigen Saison, jedoch 10 Mio. t weniger als Russland auf die Waage bringt.
Die Weizenpreise am europäischen Terminmarkt haben auf die hohen Ernteprognosen mit einem deutlichen Rückgang reagiert. Noch weitaus stärker folgen die Notierungen aber den schwankenden Vorgaben aus den USA. Mitte Juli wurde der Weizen der neuen Ernte am europäischen Terminmarkt unter der psychologisch wichtigen 200-Euro-Marke gehandelt. So niedrig waren die Preise zuletzt im Oktober. Die gute Nachricht: Noch scheint eine Trendumkehr möglich – denn in Nordamerika könnte das Wetter alle bisherigen Prognosen über den Haufen werfen. ●
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