„Es gibt kein ländliches Elend“
Sie untersuchen die Stimmung in den ländlichen Räumen seit Jahren wissenschaftlich. Was bedeutet überhaupt „abgehängt sein“?
In der wissenschaftlichen Debatte werden drei Stränge des Abgehängt-Seins unterschieden: die ökonomische, die kulturelle und die infrastrukturelle Dimension.
Prof. Andreas Klärner
forscht am Thünen-Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen.
E-Mail: andreas.klaerner@thuenen.de
Kann man dabei Unterschiede zwischen Stadt und Land messen?
Die Forschung dazu wurde in den vergangenen zehn Jahren intensiviert. Zunächst stand die ökonomische Komponente im Vordergrund, später kam die kulturelle Komponente hinzu. Die Ergebnisse sind aber nicht eindeutig, was letztlich für ein Gefühl des Abgehängt-Seins ausschlaggebend ist. Es gibt dazu eine breite Debatte. Wenn es um die Erklärung politischer Unzufriedenheit geht, muss man jedenfalls schon sehr genau hinsehen.
Woher kommt diese Debatte?
Die Debatte über das Abgehängt-Sein der ländlichen Räume ist vor gut zehn Jahren aus den USA und Großbritannien zu uns gekommen im Zuge des Wahlerfolgs von Donald Trump und des Brexit-Referendums. Damals wurde festgestellt, dass sowohl Trump als auch der Brexit im ländlichen Raum überdurchschnittlich viele Stimmen erhielten. Die Interpretation lautete, die Bevölkerung auf dem Land fühle sich von der Politik in den Zentren vernachlässigt und reagiere mit Protest. Diese Diskussion ist durch die Wahlerfolge der AfD auf Deutschland übertragen worden.
Zu Recht?
Nur zum Teil. Deutschland ist anders strukturiert, weniger zentralistisch, mit vielen kleinen und mittleren Zentren. Die infrastrukturelle Versorgung ist viel breiter aufgestellt. Es gibt zwar regionale Unterschiede in Bezug auf Daseinsvorsorge und Lebensqualität, aber sie sind nicht in einem dualistischen Stadt-Land-Gegensatz zu sehen. Wir haben ebenso altindustrielle Regionen, in denen die Versorgung nicht gut ist und es wirtschaftliche Probleme gibt, und es gibt viele ländliche Räume, denen es wirtschaftlich sehr gut geht. Von „dem abgehängten ländlichen Raum“ kann man in Deutschland also nicht sprechen.
Warum hört man dennoch ständig davon?
Die These findet in den Medien Widerhall, weil es eine einfache Erzählung ist und damit Politik gemacht werden kann. Sie gibt die Wirklichkeit aber nur bedingt wieder.
Wo sehen Sie die größten infrastrukturellen Defizite im ländlichen Raum?
Die Erreichbarkeit vieler Einrichtungen der Daseinsvorsorge wie Ärzte, Krankenhäuser, Geschäfte und so weiter ist generell relativ gut. Für den größten Teil der Bevölkerung sind solche Einrichtungen innerhalb von 15 Minuten mit dem Auto erreichbar. Das ist allerdings der Knackpunkt: die Verfügbarkeit eines Autos. Wer gerade in peripheren ländlichen Räumen kein Auto oder eine Mitfahrgelegenheit hat, für den kann es zu Einschränkungen in der Daseinsvorsorge kommen. Der ÖPNV ist als Alternative nicht ausreichend ausgebaut.
Wie hat sich die Lage in den letzten zehn Jahren verändert?
Zu beobachten ist eine Tendenz zur Konzentration von Einrichtungen der Gesundheitsvorsorge. Der Zugang zu Haus- und Fachärzten ist im ländlichen Raum schwieriger geworden. Ein flächendeckender Abbau von Infrastruktur findet in Deutschland hingegen nicht statt. In einigen Bereichen gibt es sogar große Fortschritte, zum Beispiel beim Ausbau der Betreuung von Kindern unter drei Jahren.
Wie sieht es mit der Digitalisierung aus?
Die Verfügbarkeit von Breitband und Mobilfunk ist unbefriedigend, gerade im ländlichen Raum. Da hinkt Deutschland im internationalen Vergleich deutlich hinterher. Das ist ein Wettbewerbsnachteil und schadet der Attraktivität der ländlichen Räume als Wohn- und Arbeitsort.
Ist der ländliche Raum unattraktiv als Wohnort?
Nein, im Gegenteil. Die Trends der Binnenwanderung zeigen, dass seit gut zehn Jahren mehr Menschen aus den größeren Städten auf das Land ziehen als umgekehrt. Eine generelle Landflucht haben wir nicht. Allerdings trifft die Alterung der Bevölkerung die ländlichen Räume stärker als die nichtländlichen. Was man beobachten kann, ist eine lebensphasenspezifische Mobilität: Junge Menschen verlassen nach Schule, Ausbildung oder Studium ihren Wohnort, kehren in der Phase der Familiengründung aber wieder zurück.
Womit hängt der Zustrom zusammen?
Die Situation im ländlichen Raum ist bei Weitem nicht so desolat, wie sie in manchen Berichten plakativ dargestellt wird. Es gibt kein ländliches Elend in Deutschland. Das sieht in anderen europäischen Ländern anders aus. Die meisten Menschen, die in Deutschland im ländlichen Raum leben, tun das sehr bewusst und sehr gern.
Können Sie das belegen?
Es gibt internationale Untersuchungen, die nachweisen, dass die Menschen in gut entwickelten Staaten tendenziell zufriedener sind, wenn sie auf dem Land leben als Stadtbewohner. Es gibt Studien, die das auch für Deutschland zeigen. Das gilt für die alten Bundesländer stärker als für die neuen Bundesländer, aber die Unterschiede gleichen sich an.
Lassen sich Unterschiede im politischen Denken zwischen Stadt und Land nachweisen?
Die Diskussion darüber gibt es. Mehrere internationale Autoren vertreten die These, dass sich eine neue urbane „Klasse“ mit kosmopolitischen Werten herausgebildet hat, die im Gegensatz steht zu einer eher traditionell denkenden, bodenständigen „Klasse“ auf dem Land. Für Deutschland lässt sich eine solche dualistische Spaltung zwischen Stadt und Land empirisch nicht belegen. Es gibt Untersuchungen, die Unterschiede feststellen, aber diese Differenzen sind graduell. Eine klare Spaltung gibt es nicht.
Warum halten Sie die These „der ländliche Raum wählt überdurchschnittlich AfD“ für zu pauschal?
Wir haben die Wahlergebnisse der Wahlen zum Bundestag 2017 und 2021 sowie zum EU-Parlament 2024 untersucht. Wir sehen deutliche Ost-West-Unterschiede und auch bezüglich der Ländlichkeit. Im Osten ist die AfD in den eher ländlichen Räumen, das sind nach unserer Typologie Klein- und Mittelstädte, stärker. Wird die Region ländlicher, lässt die Unterstützung für die AfD wieder nach. Einen linearen Zusammenhang nach dem Motto „je ländlicher, desto mehr AfD-Wähler“ können wir mit unseren Analysen also klar widerlegen.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Deutschland ist ein sehr vielfältiges, kleinräumiges Land mit deutlichen Unterschieden zum Beispiel nach Konfessionen, aufgrund von Geografie und Traditionen, der Teilung und aus vielen anderen Gründen. Darum sollte man nicht pauschalieren, sondern sehr genau hinschauen, wenn es um die Analyse von Wahlverhalten geht.
Es gibt in Ost und West durchaus Dörfer, in denen die Hauptstraße kaputt ist, die Fassaden bröckeln und der einzige ÖPNV der Schulbus ist.
Das stimmt. Es gibt sowohl im Westen wie im Osten Regionen, die sozio-ökonomisch nicht prosperieren. Aber man sollte in diesen Fällen genau hinschauen und eine auf die Umstände vor Ort angepasste Politik zur ländlichen Entwicklung betreiben. Wir haben in Unter- suchungen am Thünen-Institut keine empirischen Belege für ein grundsätzliches Auseinanderdriften von Stadt und Land gefunden. Was es gibt, sind Ungleichheiten und unterschiedliche Bedarfe zwischen urbanen und ruralen Regionen. Von daher braucht es eine regional differenzierte Entwicklungspolitik.
Wie sind wir da in Deutschland aufgestellt?
Wenn es um die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse geht, ist Deutschland relativ gut aufgestellt. Wir haben ein ausgeklügeltes System von finanziellen Transfers, angefangen beim Länderfinanzausgleich, das regionale Ungleichheiten abmindert. Das hat nicht dazu geführt, dass die Verhältnisse überall gleich sind, aber es verhindert ein großflächiges Auseinanderdriften.
Von ‚dem abgehängten ländlichen Raum‘ kann man in Deutschland nicht sprechen.
Was halten Sie davon, besonders strukturschwache Dörfer komplett aufzugeben?
Da bin ich entschieden dagegen.Die Menschen machen das nicht mit. Und wie will man die Bürger im Rahmen des Grundgesetzes aus ihren Häusern holen? Ich halte das für politisch nicht durchsetzbar. Im Übrigen können niedergehende Dörfer auch wieder aufblühen.
Was muss dafür geschehen?
Der Sachverständigenrat ländliche Entwicklung beim BMEL betont immer wieder, dass die Lebensverhältnisse vor Ort in und durch die Kommunen gestaltet werden. Viele Kommunen in Deutschland sind finanziell aber so eng aufgestellt, dass sie nur wenig mehr als ihre Pflichtaufgaben erfüllen können. Um die Lebensverhältnisse positiv zu gestalten, ist eine bessere Finanzausstattung der Kommunen dringend notwendig. Im Sinne des demokratischen Gemeinwesens wäre es zum Beispiel wichtig, in die Jugendarbeit zu investieren. Die Stärkung der kommunalen Finanzen ist ein sehr wichtiger Punkt, um den ländlichen Raum als lebenswerten Raum zu stärken.
Woher könnte das Geld kommen?
Der Sachverständigenrat hat dazu Vorschläge entwickelt, zum Beispiel die Erhöhung des Anteils der Kommunen an der Umsatzsteuer.
Müsste auch die ländliche Entwicklungspolitik der EU neu ausgerichtet werden?
Die EU lässt den Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Maßnahmen der ländlichen Entwicklungspolitik relativ große Freiheiten. Eine Möglichkeit wäre, die verfügbaren EU-Gelder weniger stark auf den landwirtschaftlichen Sektor zu fokussieren, sondern die ländlichen Räume als Ganzes in den Blick zu nehmen. Ein vernetzter Ansatz denkt Landwirtschaft, Wirtschaft und die Menschen in den ländlichen Räumen zusammen und bringt die Förderung in die Fläche.
Haben Sie Beispiele aus anderen Mitgliedstaaten, die diesen Ansatz befolgen?
Österreich ist ein gutes Beispiel für einen Mitgliedstaat, der die ländliche Entwicklung sehr viel vernetzter denkt. Landwirtschaft wird dort zusammen gedacht mit der in den Dörfern lebenden nichtlandwirtschaftlichen Bevölkerung und Wirtschaft. Das würde ich auch für Deutschland sehr befürworten. Landwirtschaftliche Betriebe sind auf gute und attraktive Lebensverhältnisse vor Ort angewiesen, damit die Familien und Mitarbeiter gern auf dem Land leben.
Interview: norbert.lehmann@agrarheute.com
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