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Falsche Fährten

Auf Messers Schneide

Auch wenn sich das Wetter beruhigt hat, hängen die Wolken noch bedrohlich dunkel über Stephan Gatterers Kopf. Am Tag zuvor und vor allem in der vergangenen Nacht hatte es im Tal stark geregnet und die Höhen mit Neuschnee bedeckt. Der die Kaltfront voranpeitschende Sturm hat Teile Südtirols in ein Katastrophengebiet verwandelt und die Schlagader Europas gen Süden – die Brennerautobahn – durch eine Mure zum Stillstand gebracht. Jetzt, am Morgen danach, ist es still im lichten Bergwald. Totenstill.

Der Wald liegt gebrochen im feuchten Moos, so sehr hatte auch dort der Wind gewütet. Das Einzige, was Stephan gerade noch hört, ist das Hämmern seines Blutdrucks in seinen Ohren und das immer leiser werdende Kläffen seiner Alpenländischen Dachsbracke „Aiko“. Stephan hat Angst. Um „Aiko“. Ein Fehltritt, und der Rüde ist tot.

Perfekte Bedingungen: Aufbruch in eine andere Welt

Ein Sturmtief hatte weite Teile des Bergwalds dem Erdboden gleichgemacht.

Der 33 Jahre alte Zimmerer aus dem kleinen Touristendorf Santa Christina war am frühen Morgen zusammen mit seinem Dachsbracken-Rüden aufgebrochen, um seiner Leidenschaft nachzugehen: Der Niederwildjagd in den Bergen. „Leider interessiert das mittlerweile nur noch wenige, doch für mich gibt es nichts Schöneres in den verschneiten Bergen als auf Fuchs und Has‘ zu jagen. Allein. Nur ich und mein Hund.“ So lässt Stephan auch am Tag nach dem Sturm seinen Geländewagen am Rande einer Viehweide stehen und stapft los – hinauf in den Lebensraum der Hasen, die jetzt, Ende Oktober, meist schon schneeweiß sind.

Mit jedem Schritt geht der Matschboden in ein weiß-braunes Schlammgemisch über, um irgendwann zu einer rein-weißen Matte aus nassem Neuschnee zu werden. Es sind perfekte Bedingungen. „Pulverschnee mag ‚Aiko‘ nicht. Der zieht unangenehm in der Nase“, sagt Stephan. Die Folge davon ist, dass „Aiko“ versucht, mit hoher Nase zu arbeiten, was diese Art, Hasen zu jagen, zum Scheitern verurteilt.

Immer das gleiche Ritual: Anlegen der Warnhalsung, Abnehmen der ledernen – und ein leichter Klaps auf Rücken und Keulen. Dann ist „Aiko“ frei.

Nach einer guten Stunde Aufstieg kommen die beiden in einer Gegend an, die für Schneehasen wie gemalt erscheint. Almwiesen, durchsetzt mit Latschengruppen und einzelnen Lärchen und Zirben. Ab und an noch ein paar Fichten. Zur rechten Seite verstecken sich die für die meisten Lebewesen undurchsteigbar steilen Felstürme in den Wolken. Sie bilden eine Art Schlucht. Bis auf 3.100 m. ü. NN reichen diese Giganten hinauf. Aus dem Inneren der Schlucht – aber immer noch weit über Stephans Kopf – donnert und grummelt es. Es sind wohl Lawinen, die dort nach unten rauschen.

Am Fuße dieser Welt aus Stein und Schnee liegt in einer Rinne ein kleines Latschenfeld. Vielleicht einen halben Hektar groß. Vielleicht auch etwas mehr. Stephan hat mit diesem Dickicht gute Erfahungen gemacht. Eigentlich jedes Jahr sitzen dort ein paar Hasen. Außer im vergangenen Jahr: Da steckte ein Hirsch im Verhau.

Ab geht es für „Aiko“ in die raue Welt der Berge

Auch „Aiko“ kennt diese Stelle und beginnt freudig mit der Rute zu wedeln. Er weiß, was jetzt kommt. Sein Herr wird anhalten, sich niederknien, ihm die dicke orange-gelbe Halsung umlegen, ihn nochmal knuddeln. Und dann wird er ihn mit einem Klaps auf die Keulen losschicken. Hinein in die weite Bergwelt.

Mit der Aufgabe, einen Hasen zu finden, sich an seiner Fährte festzusaugen wie ein Pfropfen aus Gummi an einer Glasscheibe. Und er wird unter ständigem Geläut versuchen, diesen Hasen dazu zu bringen, eine fatale Wahl zu treffen: Nämlich seinen Fluchtkreis in Richtung von Stephan zu verlegen. Bis auf 25 Meter an den Jäger heran, damit der den tödlichen Schuss anbringen und seinen Hund für die getane Arbeit belohnen kann. Stephan löst die Lederhalsung – und „Aiko“ ist frei.

Nasser Schnee ist perfekt für das Brackieren. Pulverschnee kitzelt zu stark in der Nase.

Das alles beobachtet seit geraumer Zeit ein Gamsbock. Schwarz wie der Teufel thront er etwa 70 Meter über den beiden auf einem Felsen. Die Geräusche vor seinem Einstand haben ihn aus seinem Latschenbett hochwerden lassen. Jetzt äugt er grimmig auf die beiden Gestalten, die ihn da stören, herab. Als der Hund zum ersten Mal in der Dickung Laut gibt, reicht es ihm. Er beginnt, wegzuziehen. Weg von den Eindringlingen aus dem Flachland. Dorthin, wo es für eine Gams am sichersten ist.

Hinweg über eine Schotterrinne, hin zu einer Steilwand, die nur einen schmalen Faltenwurf im Berg als Trittpfad zeigt. Auf der einen Seite fällt sie senkrecht in die Tiefe, auf der anderen greift der Fels nach den Wolken.

Auf die robusten Winterhasen verwendet Stephan 2er Schrot.

Der Bart steht dem Bock fast senkrecht zu Berge, die pechschwarze Winterdecke sticht aus der schneeweißen Landschaft heraus wie Blut auf einem weißen Laken. Er ist der Chef hier. Und er ist schlecht gelaunt aufgrund der kleinen braunen Nervensäge, die dort unten seinen Einstand gerade auf Links dreht. Mit einem stolzen Ausfallschritt betritt der dann den felsigen Faltenwurf.

„Aiko“ gibt Laut – nur welchen?

Das alles hat Stephan weiter unten nicht bemerkt. Er freut sich, dass „Aiko“ schon nach kurzer Zeit Laut gibt und scheinbar am Jagen ist. Nur die Art des Lauts wundert ihn. Die passt nicht ganz. Dann sieht er plötzlich aus dem Augenwinkel einen schwarzen Geist über sich stehen, der langsam beginnt, sich zu bewegen. Hinweg über ein Geröllfeld, hin zu einer Felswand, die nur Kreaturen mit Flügeln oder den Schalen einer Gams duldet.

„Scheiße“, entfährt es ihm, als er „Aiko“ aus dem Latschenfeld auftauchen und mit tiefer Nase hinweg über ein Schneebrett in Richtung eben jenes Steins preschen sieht, auf dem gerade eben noch der Bock gestanden hatte. Es beginnt wieder leicht zu schneien, als „Aiko“ nur wenige Momente nach dem Gams den halsbrecherischen Felspfad betritt und dem Gams mit tiefer Nase nachjagt.

Stephan und „Aiko“: ein Hang zum Niederwild

2.700 Hektar groß ist das Bergrevier, das sich Stephan mit 22 anderen Jägern aus seiner Gemeinde teilt. Wie jeder der anwohnenden Jäger hat auch Stephan das Recht, gegen ein Entgelt von 800 Euro dort seiner Passion nachzugehen. Das Wildbret ist inklusive. In Intervalljagd erlegen die Waidmänner und -frauen jährlich zehn bis 15 Stück Rotwild, 24 Gams und 60 Rehe. Hinzu kommen Fuchs, Schnee- und Feldhase sowie Birkwild und Schneehühner. Auch der Wolf lässt sich immer wieder in dieser Gegend blicken, ist aber ganzjährig geschont.

Diese Felswand durchquerten Gams und Bracke.

Stephan ist der einzige Jäger in der Familie. Das Interesse daran kam von alleine. „Kein Wunder, wenn das Wild ständig in deinem Garten steht, oder“, schmunzelt der Handwerker. Die Passion für die Niederwildjagd war es dann auch, die ihm „Aiko“ beschert hat. Das bewusste Stöbern auf Schalenwild ist in Südtirol nämlich verboten. Nur Hase und Fuchs dürfen auf diese Art und Weise gefunden und vor die Flinte gebracht werden.

„Er kennt diesen Laut. Schon viele Male hat er ihn gehört und verbindet schöne Jagdmomente mit ihm.“

Entsprechend gerne zieht es Stephan und „Aiko“ zwischen dem 1. Oktober und 30. November hinein in die Kampfzone des Waldes. In einem guten Jahr erlegen die beiden auf diese Art bis zu zwölf Schneehasen, ein paar der größeren Feldhasen – und der ein oder andere Latschenfuchs mit bestem Winterbalg war auch schon dabei. Nach Stephans Erfahrung sind die Bedingungen am besten, wenn es feucht ist, aber nicht mehr regnet oder schneit. „Da hält sich die Spur besser.“

Im Optimalfall hat es während der Nacht – der Aktivzeit der Hasen – leicht geregnet. „So langsam ist mir nicht mehr wohl bei der Sache.“ Nervös streicht sich Stephan über den Mund und murmelt weiter etwas vor sich hin. Auf ladinisch, neben deutsch und italienisch die dritte Amtssprache in dieser Gegend.

Frische Spur – hier hoppelte während der Nacht ein Hase durch den Schnee.

Vor einer halben Stunde hat seine Dachsbracke einen Grat betreten, der schnell zum Grab werden kann. Einige Zeit hat Stephan „Aiko“ noch mit dem Fernglas bei seinem Ritt auf des Messers Schneide verfolgen können, dann hat ihn die raue Bergwelt verschluckt. Um die Region besser einsehen zu können, ist der junge Jäger ein Stück abgestiegen und glast nun die Gegend auf der Suche nach seinem vierbeinigen Freund ab. Der Felspfad öffnet sich nach etwa 300 Metern wieder und ergießt sich in ein kleines Hochtal.

Von „Aiko“ aber ist weiterhin keine Spur zu sehen. Der Himmel reißt langsam auf, es hat aufgehört zu schneien. Vier rot-grau-schwarze Farbtupfer hüpfen leise flötend von einer Fichte zu anderen. Es sind Dompfaffen, die sich auf den Winter vorbereiten. Viel mehr als die Rufe der Singvögel und das Krächzen eines Tannenhähers ist nicht zu hören. Der Schnee hat den Bergwald eingehüllt in einen Mantel der Stille. Zumindest so lange, bis sich das nächste Schneebrett von den Zinnen löst und in die Schlucht weiter oben hinabstürzt.

Dann plötzlich mischt sich jedoch der Hall eines weiteren Lauts zwischen Dompfaff-Geflöte und Lawinen-Dröhnen. Dumpf, wie durch Watte dringt er an Stephans Ohr. Er kennt diesen Laut. Schon viele Male hat er ihn gehört und verbindet schöne Jagdmomente mit ihm. Die Sorge macht der Hoffnung Platz. „Aiko“ flüstert der Südtiroler, und ein Lächeln huscht über seine Lippen.

„Aiko“ – geschafft, aber wohlbehalten zurück.

Dann hört er nochmal genauer hin, und ein lautes Lachen durchbricht die Stille der Berglandschaft. Der kleine Bracken-Rüde hat es nicht nur geschafft, die Steilwand zu überleben, nein, er hat sogar einen Hasen gefunden und tut nun viele Hunderte Meter entfernt genau das, was er am liebsten tut: Hinter einem weißen Langohr herjagen, die Nase tief auf dessen Spur im tiefen Oktober-Schnee.

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