Gefühlschaos am 1. Mai: Ein unerwarteter Lebensbock

Ich setzte mich 200 Meter weiter tiefer in den Wald. Wohl wissend, dass das Rehwild eher auf freier Fläche zum Äsen erscheint. Egal, vielleicht würde ja der ein oder andere Bock bei mir austreten. Nach vier Stunden Ansitz und nur wenig Anblick entschieden wir uns abzubaumen und noch einen Fußmarsch durchs Revier zu machen.

Kurz bevor wir das Auto erreichten, sah ich im Augenwinkel eine unwirkliche Form. Ich konnte es zunächst nicht zuordnen. Als ich genauer hinsah stellte ich fest, dass sich dort ein Bock eingeschoben hatte. Wir äugten uns eine gefühlte Ewigkeit an. Als er hochkam erkannte ich, dass sein linker Hinterlauf verletzt herunterhing.

Blitzschnell entschied ich mich, ihn erlösen zu wollen. Ich packte die Waffe und pirschte ihm hinterher. Trotz seines Schonens legte er ein gutes Tempo vor. Mehrfach schob sich der Bock unter alten herabgefallenen Baumkronen ein. Gut versteckt konnte ich ihn nicht immer gleich ausmachen. Als ich ihn erneut hochmachte, wartete ich auf den passenden Moment. Endlich hatte ich freies Schussfeld, atmete einmal tief ein, schätzte die Situation ab und ließ die Kugel fliegen.

Der Bock war erlöst und die Gefühle übermannten mich: Erleichterung, Glück, Fassungslosigkeit, Überwältigung. Ein wahres Gefühlschaos. Nachdem die ersten Tränen weggewischt waren und ich mich gesammelt hatte, konnten wir den Bock bergen und versorgen. Beim Aufbrechen stellte ich eine starke Unterernährung fest. Der Pansen war komplett leer und die Losung steinhart. Er muss sehr gelitten haben. Seine Verletzung am Hinterlauf wies Einschnitte auf und das Hüftgelenk war komplett kaputt.

Jedes Mal, wenn ich mir die Bilder anschaue, kann ich es nicht glauben, dass mir dieses Waidmannsheil zuteil geworden ist. Dieser Tag gehört zu den besonderen, die ich nie vergessen werde!