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Die Welt aus der Kuhperspektive

Die Kuhbrille zeigt dem Nutzer in Echtzeit seine Umgebung aus Sicht einer Kuh: Eine Kamera nimmt ein Bild auf und eine Software verändert es so, dass es dem Sehfeld nahekommt, das Rinder dem aktuellen Forschungsstand zufolge haben.

Jede Rinderhalterin und jeder Rinderhalter kennt die Situation: Eine Kuh bleibt plötzlich stehen und bewegt sich keinen Meter weiter. Dabei gibt es dafür eigentlich keinen Grund. Oder vielleicht doch? Kühe sehen und hören anders als wir. Daher gibt es für ihr Verhalten manchmal Gründe, die wir mit unseren Sinnen nicht wahrnehmen können.

Sehen wie eine Kuh

Vor diesem Hintergrund hat Benito Weise, Ausbilder am Landwirtschaftlichen Bildungszentrum (LBZ) Echem, die Kuhbrille entwickelt: eine Virtual Reality (VR)-Brille, mit der man seine Umgebung in Echtzeit mit den Augen einer Kuh sehen kann: Eine Kamera mit zwei Objektiven nimmt ein Bild der Umgebung auf und eine eigens entwickelte Software verändert es so, dass es dem Sehfeld nahekommt, das Rinder nach aktuellem Forschungsstand haben. Das modifizierte Bild wird anschließend auf die Bildschirme der VR-Brille übertragen. „Die Bildverarbeitung läuft so schnell ab, dass man seine Umgebung in Echtzeit beobachten und mit der Brille umhergehen kann. Das ist das Besondere an dem System, was es bisher noch nicht gab“, erklärt Weise

Sein Antrieb zur Entwicklung der Kuhbrille war, dass sich die Sinneswahrnehmung von Rindern in der Ausbildung bisher nur theoretisch mit Schaubildern vermitteln ließ. „Man sieht auf so einem Schaubild die verschiedenen Zonen des Sehfelds und hört, hier passiert dies und hier das – aber das geht nicht in Fleisch und Blut über. Es gibt keine Handlungsableitung.“ Genau das hält Weise aber für unverzichtbar: „An bestimmten Punkten kommen wir nur stressfrei weiter, wenn wir die Wahrnehmung der Kühe berücksichtigen. Wer mit Rindern arbeitet, sollte wissen, wie sie sehen – für sich selbst und für die Tiere.“

Benito Weise

Unterschiede bedenken

Das Ziel der Kuhbrille war also, zu zeigen, wie Kuh Stall und Handling, wahrnimmt. Zum Beispiel hätten Kühe bei Beleuchtungswechseln eine viel längere Adaptionszeit als Menschen. „Wenn man im dunklen Stall das Licht einschaltet, kann es sein, dass die Tiere fast zehn Sekunden lang geblendet sind und nichts sehen – das muss uns klar sein. In dieser Zeit sind wir schon lange im Stall am Arbeiten.“ Gleichermaßen könnten Kühe, die am Futtertisch stehen und ins Helle schauen, nicht sehen, wenn sich eine Person von hinten aus dem Dunkeln nähert.

Das Sehfeld von Rindern unterscheidet sich laut Weise noch in weiteren Punkten erheblich von dem des Menschen. Die Kuhbrille berücksichtige folgende Annahmen:

  • Die Adaptionszeit bei Beleuchtungswechseln ist fünf- bis sechsmal länger als bei uns. Rinder sehen anfangs fast nichts, wenn sie aus dem Dunklen ins Helle laufen oder umgekehrt.
  • Durch die seitliche Augenstellung haben Kühe ein Sehfeld von 330 Grad – also fast eine Rundumsicht. Es fehlt lediglich der Ausschnitt von 30 Grad hinter der Kuh.
  • Vorne überschneiden sich die Sehfelder beider Augen. Nur in diesem Bereich (zirka 30 Grad) sehen Rinder scharf. Einigen Studien zufolge entspricht die Sehschärfe in diesem Bereich ungefähr der des Menschen, aber rechts und links davon nur maximal 30 Prozent davon.
  • Bei Dämmerung sehen Rinder besser als wir.
  • Sie nehmen Kontraste verstärkt war und sehen Unterschiede zwischen hell und dunkel, Reflexionen und Lichtblitze deutlicher.
  • Sie haben als Dichromaten nur zwei verschiedene Arten von Farbrezeptoren, Menschen als Trichromaten drei. Kühe sind also rot-grün blind.
  • Rinder sehen mit 50 bis 60 Einzelbildern pro Sekunde und damit deutlich mehr als wir. Was wir als konstantes Licht oder flüssigen Film wahrnehmen, ist für Rinder also möglicherweise ein Flackerbild. Problematisch sind laut Weise LED-Lampen ohne geeignetes Vorschaltgerät, das Wechselstrom in Gleichstrom umwandelt, sodass sie auch für die Rinder flackerfrei leuchten.

Die Perspektive wechseln

Weise beobachtet bei den Nutzern der Kuhbrille meist zwei Reaktionen nacheinander: Zuerst komme das Erleben des Sehfeldes als bloße Information. Selbst langjährige Rinderhaltern würden beim Blick durch die Brille oft erstaunt die Erklärung dafür finden, dass ihre Tiere an einer bestimmten Stelle im Stall nicht weitergehen und sich immer stauen. Viel interessanter sei aber der nächste Schritt, wenn die Menschen die Perspektive der Kuh einnehmen und Empathie entwickeln. „Durch den Perspektivwechsel denken Menschen darüber nach, wie es der Kuh geht und was sie ihr zumuten bei der täglichen Arbeit im Stall, an Engstellen oder mit bestimmter Technik. Und sie fragen sich, ob sie etwas ändern müssten.“

Die Kuhbrille wurde erstmals auf der EuroTier 2018 präsentiert und danach an verschiedene Ausbildungs- und Forschungseinrichtungen im In- und Ausland verkauft. 2020 belegte sie den zweiten Platz des Digitalisierungspreises Agrar und Ernährung des Landes Niedersachsen. Auch in der Ausbildung am LBZ war sie im Einsatz, was zurzeit allerdings wegen der Pandemie nicht möglich ist, da das Material der häufigen Desinfektion nicht standhält. Künftig soll die Brille aber wieder zum Standardlehrmittel werden und bei Seminaren und Lehrgängen auch anderen Landwirten zur Verfügung stehen.

Ein Zukunftsprojekt ist für Weise die Pferdebrille: Eine zweite Software soll das System auf das Sehfeld von Pferden übertragen. Außerdem will er die Kuhbrille um den Hörsinn erweitern und den Nutzern mit Kopfhörern die Hörweise von Kühen näherbringen (siehe Kasten unten).

Rinder sind Fluchttiere

Besonders wichtig ist das Wissen zur Sinneswahrnehmung von Rindern für Weise vor dem Hintergrund, dass sie Fluchttiere sind. Sie würden ihre Umgebung permanent auf mögliche Gefahren hin untersuchen, um gegebenenfalls wegzulaufen. Da Weglaufen im Stall keine Option ist, bliebe ihnen nur, sich an die Gegebenheiten zu gewöhnen. Dass das Fluchtverhalten dennoch angeboren und keinesfalls „weggezüchtet“ ist, werde daran deutlich, dass Rinder deutlich scheuer und aufmerksamer sind, wenn sie mehrere Tage in freier Wildbahn unterwegs waren oder ein Wolf in der Herde war. Dass sie Fluchttiere sind und in ihrer Sinneswahrnehmung sensibler als wir, müssten Rinderhalter daher immer bedenken – im täglichen Management und auch bei der Planung von Ställen und Stalltechnik. „Wenn man das Wissen zur Sinneswahrnehmung von Rindern berücksichtigt, kann man viel bewirken“, ist Weise überzeugt.

Im Video bekommen Sie einen Eindruck vom Blick durch die Kuhbrille:

Mit den Ohren einer Kuh – Rinder hören auch anders als Menschen

Hören ist laut Weise für Rinder als Fluchttiere sogar wichtiger als Sehen, da sie auch im Dunkeln jederzeit Gefahren wahrnehmen können müssen. Allerdings würden viele Geräusche, die auf Gefahren hindeuten könnten, im Ultraschallbereich liegen – also über dem Bereich, in dem Menschen hören können. Rinder könnten weit höhere Frequenzen wahrnehmen: Ab einer Frequenz von ungefähr 4.100 Hertz (höchster Ton am Klavier) bräuchten Rinder immer weniger Lautstärke, um einen Ton zu hören, während es für das menschliche Gehör immer lauter werden müsse. Die höchste Frequenz, die ein Mensch wahrnehmen kann, liege bei rund 19.000 Hertz, mit zunehmendem Alter weit niedriger. Rinder hingegen würden bis zirka 35.000 Hertz hören. Es gibt also einen großen Bereich, in dem Rinder hören können, Menschen aber nicht.

Um diesen Bereich näher zu untersuchen, hat Weise einen Fledermausdetektor umbauen lassen, sodass er Geräusche darin anzeigt. Seine Entdeckung: „Wenn ich im Stall losgehe und mir zum Beispiel einen Melkroboter anhöre, stelle ich fest: Überall pfeift und brummt es.“

Hydraulikventile und LED-Beleuchtung

Ähnlich sei die Situation im Klauenpflegestand. Neben Motoren würden nicht vollständig offene oder geschlossene Hydraulikventile Geräusche im hohen Frequenzbereich verursachen oder die Drehscheibe der Flex. LED-Beleuchtung könne Kühe gleich aus zwei Gründen belasten: Zum einen, wenn das Vorschaltgerät nicht gut genug ist, um den Wechselstrom in Gleichstrom umzuwandeln, sodass das Licht flackert. Zum anderen, weil Vorschaltgeräte Geräusche im hohen Frequenzbereich verursachen würden.

Die hohen Ultraschallfrequenzen aufzunehmen und in Echtzeit auf den Kopfhörer der Kuhbrille zu spielen, wäre laut Weise technisch kein Problem. „Die Frequenz wird geviertelt und dadurch in den für uns hörbaren Frequenzbereich übersetzt. Aber wir können die Töne nicht hören, wie die Kuh sie hört. Für die Kuh sind sie viel höher und unglaublich laut.“ Allerdings sei aus der bisherigen Forschung nicht bekannt, welche Frequenzen in welchen Lautstärken bei Rindern oberhalb der Schmerzschwelle liegen oder Stress auslösen. Daher könne man die Geräusche zwar hörbar machen, aber nicht sagen, wie sie sich auf die Tiere auswirken.

Wie wirken Geräusche im Stall auf Rinder?

Aus diesem Grund plant Weise zurzeit ein Projekt mit dem Forschungsinstitut für Nutztierbiologie (FBN) in Dummerstorf. „Wir wollen einen Geräuschkatalog erstellen mit Aufnahmen von verschiedenen isolierten Geräuschen. Diese Aufnahmen spielen wir dann in einem abgeschottetem Versuchsbereich Tieren vor, die den jeweiligen Roboter, den Klauenpflegestand, die Flex oder die Pumpe nicht kennen.“ Um zu prüfen, wie die Geräusche auf die Kühe wirken, wollen die Wissenschaftler ihr Verhalten beobachten sowie Stresshormongehalte im Blut und ihre Herzfrequenz prüfen.

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