DORFLEBEN - MIT VIDEO
Eine Werkstatt voller blauer Wunder
Durch den schmalen „Blaufärbergang“ mitten in der verwinkelten Altstadt von Jever (Landkreis Friesland) spaziert man direkt auf das urige Backsteinhaus zu. Wer die hohe, grüne Holztür aufstößt und zum ersten Mal in die Blaudruckerei tritt, fühlt sich wie per Zeitreise ins Mittelalter versetzt. Man steht in einem hohen Raum mit weiß verputzen Wänden; hier und da scheinen die rohen Steine durch. In den fast deckenhohen Regalen liegen übereinandergestapelt geheimnisvolle Werkzeuge. Sie erinnern ein wenig an übergroße Stempel – und sie müssen über die Jahrhunderte schon durch unzählige Hände gegangen sein. In der hinteren Ecke der Werkstatt schimmert eine dunkle Flüssigkeit in einem riesigen gemauerten Bottich. Wenn man sich dann im Verkaufsraum umschaut, fallen sofort die blau bedruckten Stoffe ins Auge: Handtücher, Tischläufer, Schürzen und vieles mehr.
Lebendiges Museum für die Färbekunst
Tatsächlich stammt das jeversche Speicherhaus „nur“ aus dem Jahr 1822. „Einige der Druckstöcke sind jedoch um die 400 Jahre alt“, weiß Sabrina Schuhmacher. Sie ist mit ihren 25 Jahren die wohl jüngste Blaudruckerin Deutschlands. Erst vor noch nicht ganz zwei Jahren entdeckte sie das traditionsreiche Handwerk – und war sofort verliebt.
„Für meine Abschlusskollektion an der Fahmoda, der Modeschule für Modedesign und Maßschneiderei in Hannover, wollte ich eine alte Technik anwenden“, erzählt sie. „Darum bin ich im Jahr 2020 nach Jever in die Blaudruckerei Stark gekommen.“ Die Folge: Schuhmacher entwarf und nähte für ihre Abschlussarbeit einige Kleider aus Blaudruckstoffen, aber nicht nur das. Bereits ein knappes Jahr später übernahm sie Ladengeschäft und Werkstatt von Georg Stark. Dieser hatte zu dem Zeitpunkt schon länger nach einer Nachfolge für sein Lebenswerk gesucht. Aus Hannover zog die gebürtige Bassumerin (Landkreis Diepholz) darum nach Jever. „Im Herzen bin ich ein Landkind, immer gewesen“, betont sie und freut sich, wieder in einer Kleinstadt zu leben.
Wer Sabrina Schuhmacher dabei zuschaut, wie sie eine Stoffbahn strahlend weißer Baumwolle am eisernen Kronreifen befestigt und diesen dann per Kurbelvorrichtung in den steinernen Färbebottich sinken lässt, kann sich kaum vorstellen, dass sie das Handwerk erst seit so relativ kurzer Zeit ausübt.
Geduld und Leidenschaft für altes Handwerk
Drei Meter ist der Bottich mit der Färbeflüssigkeit tief; der Indigofarbstoff erzeugt das tiefe Blau. „Der Ursprung des Blaudrucks liegt in Indien“, weiß Sabrina Schuhmacher. „Vorher kannten wir zum Blaufärben nur den Färberwaid aus Thüringen, der dann vom besseren tropischen Indigo verdrängt wurde. Bei beiden Pflanzen wurde aus dem Saft ein blaues Pulver gewonnen.“ Blaudruckereien gab es einst in allen europäischen Ländern. In Jever hätte es durch die Jahrhunderte immer drei Werkstätten gegeben, so Schuhmacher, bis diese zur Zeit der Jahrhundertwende durch die Industrie verdrängt wurden. Heute existieren deutschlandweit acht Blaudruck-Betriebe; in Niedersachsen gibt es zum Beispiel noch eine Blaudruckerei in Einbeck.
Die typischen Blaudruckmuster – meist Blüten, Blätter oder Rauten – werden vor dem Färben in Handarbeit mit kleinen Druckstöcken auf den Stoff aufgebracht. „Man braucht schon Geduld und auch Leidenschaft für das Handwerk“, bestätigt Sabrina Schuhmacher. Als die Technik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aus Indien nach Europa kam und sich von Amsterdam aus verbreitete, waren die Dekore noch deutlich asiatisch geprägt, so die Blaudruckerin. „Ein Beispiel dafür ist dieses Muster.“ Sie zeigt auf einen riesigen Wandbehang. „Das sind Granatäpfel, die in Indien vorkommen. Die Menschen hier kannten sie aber nicht, also nannten sie das Dekor ‚Zwiebelmuster‘, weil es ein wenig nach Zwiebeln aussieht. Daraus entstand dann das blaue Muster auf weißem Grund, das man von ostfriesischem Teegeschirr kennt.“ Andere Muster stammen aus der Art-Deko-Zeit: „Sie wirken viel plakativer als die älteren, sehr filigranen Dekore“, so Schuhmacher und zeigt einige unglaublich detailreich gearbeitete Druckstöcke; der Fachbegriff heißt „Modeln“.
Im Fundus ihrer Blaudruckerei schlummern Modeln für mehr als 600 verschiedene Muster aus unterschiedlichen Epochen – echte Kunstwerke, die einst traditionsgemäß aus Birnbaumholz geschnitzt wurden. Das Muster ist im Holz erhaben; manchmal wurden für die Feinheiten noch winzige Metallstifte ins Holz eingesetzt. Heutzutage werden Modeln kaum mehr komplett neu hergestellt; eher werden sie repariert – wenn man denn jemanden findet, der sich noch mit der alten Technik auskennt. Einen Lehrberuf als Blaudruckerin gibt es nicht. Sabrina Schuhmacher erfuhr darum in einer dreimonatigen Einarbeitungszeit nicht nur alles über das Handwerk, sondern auch viel über die Geschichte der Färbetechnik vom vorherigen Inhaber der Blaudruckerei, Georg Stark.
Wertvolle Druckstöcke erzeugen die Muster
Georg Stark hat Werkstatt und Laden in den 1980er Jahren aufgebaut, bekannt gemacht und seinen Bestand an den wertvollen und mittlerweile raren Modeln beständig vergrößert. Denn als der Blaudruck über die Jahre von anderen, einfacheren Färbetechniken abgelöst wurde, waren die hölzernen Druckstöcke weggeworfen, teils einfach verfeuert worden. Heute steht der Blaudruck auf der Unesco-Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit. Die Arbeit selbst erfordert viel Sorgfalt: Zuerst werden die Modeln mit einer wachsartigen Masse, dem sogenannten Papp bestrichen. Dieser wird dann auf weißen Baumwoll- oder Leinenstoff aufgebracht; geeignet ist auch jeder andere Naturstoff. Genaues Arbeiten ist erforderlich, denn zum Beispiel für ein Rankendekor, das sich über die gesamte Länge einer Tischdecke zieht, muss das Model immer wieder neu angesetzt werden. Natürlich so, dass keine sichtbaren Übergänge im Muster entstehen.
Bis zu sechs Wochen für ein fertiges Stück Stoff
Ob der Papp-Auftrag wirklich gelungen ist, sieht man allerdings erst nach der Färbeprozedur – an den „bepappten“ Stellen nimmt der Stoff keine Farbe an. Bis der markante Indigo-Blauton erreicht ist, braucht es mehrere Wasch- und Färbegänge, dazwischen muss der Stoff immer wieder durchtrocknen. So kann es bis zu sechs Wochen dauern, bis der Stoff für einen Tischläufer, eine Schürze oder eine Tasche fertig ist. Aufgrund dieser langen Produktionszeiten sei es nicht nur schlecht gewesen, dass sie die Blaudruckerei im letzten Frühjahr mitten im ersten Lockdown übernommen habe, findet Sabrina Schuhmacher: „So konnte ich mir in den ersten Monaten einen Vorrat an Stoffen für den Verkauf zulegen.“ Neben selbst Gefärbtem verkauft sie auch Einzelstücke wie Hemden und Oberteile aus altem Leinen – Fundstücke von Haushaltsauflösungen oder vom Flohmarkt. Diese lassen sich allerdings nicht mehr im Blaudruck färben, da das nur mit unverarbeiteten Stoffen möglich ist. Allerdings können Kundinnen und Kunden sich in der Blaudruckerei beispielsweise Tischwäsche – und auch eigenes altes Leinen oder Baumwolle – in ausgewählten Designs bedrucken sowie in individuellen Größen fertigen lassen.
Neues blaues Leben für Omas alte Tischwäsche
„Es kommt oft vor, dass Menschen noch die Aussteuer von der Oma aufbewahren, oft aus wertvollem alten Leinen, aber man braucht die großen weißen Tischtücher von früher heute kaum noch“, weiß Schuhmacher. Im blaugemusterten Gewand kommen sie wieder neu zur Geltung. Für die Zukunft kann sich die 25-Jährige vorstellen, aus selbst bedrucktem Stoff auch eigene Entwürfe zu schneidern – so wie in ihrer Abschlusskollektion für die Modeschule, die sie zum Blaudruck geführt hat: „Ich sehe noch viel Potenzial für die Blaudruckerei“, sagt sie enthusiastisch. „Hier kann ich Tradition und Moderne perfekt verbinden.“
Sabrina Schuhmacher und ihr Team erklären bei Handwerksvorführungen das Drucken und Färben in der Indigoküpe sowie den geschichtlichen Ursprung des Handwerks und der Muster. Eine offene Handwerksvorführung findet je nach Corona-Auflagen mittwochs um 15 Uhr statt (6 Euro pro Person), für Gruppen nur nach Anmeldung.
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