Stärker als die Flut
Auf den Punkt
- Nach der Flutkatastrophe im Ahrtal kämpfen die Landwirte um ihre Flächen.
- Viele Uferwiesen sind voller Kies und von den Bergungsarbeiten stark verdichtet.
- Die Behörden sind mit der Lage überfordert. Der Wiederaufbau stockt.
Baumstämme krachen gegen die Mauern des Stalls. Wie Spielzeug wirbelt das Wasser sie umher. Siloballen, Gastanks, Maschinen – die entfesselte Ahr reißt alles mit sich. Drei Meter tief steht der Viehstall der Familie Justen in der braunen Flut. Seit dem Nachmittag ist der sonst so kleine Fluss rasend schnell gestiegen. Meter für Meter. So hoch wie nie zuvor. Und es regnet immer weiter.
Nur wenige Zentimeter und auch der letzte Zufluchtsort von Helga Justen wird überschwemmt sein. Zusammen mit einem Helfer hat sich die Landwirtsfrau auf einen kleinen Treppenvorsprung im ersten Stock über der Milchkammer geflüchtet. Noch wissen die beiden nicht, dass sie hier die Nacht verbringen werden: auf eineinhalb Quadratmeter Beton, unter ihnen der sichere Tod im trüben Wasser.
Eben noch haben sie versucht, eine Kuh aus dem Stall zu retten. Zu spät. Das Wasser steht ihnen schon bis unter die Achseln. Sie müssen sofort raus. Die Strömung wird zu stark. Die trächtige Kuh verschwindet in den Fluten. Sie wird nie wiedergefunden. Jetzt kämpfen Helga und ihr Helfer nur noch um eines: das eigene Leben.
Zum Glück konnten ihr Mann, Landwirt Wolfgang Justen, und weitere Helfer den beiden von einem Hang aus Seile zuwerfen. Damit sind sie jetzt an einen Traktor gebunden, der weiter oben im Gelände steht. Eine notdürftige Sicherung. Bis zum Morgengrauen werden sie auf dem kleinen Balkon ausharren müssen. Nur ein Hubschrauber könnte helfen. Aber Hubschrauber sind nicht zu kriegen in dieser Nacht im Ahrtal.
Um 3 Uhr scheitert ein erster Rettungsversuch mit dem Traktor. Die Strömung droht den Schlepper von Wolfgang Justen mitzureißen. Erst um kurz vor 5 Uhr kann er sich mit dem Traktor bis zum Stall vorwagen und seine Frau und ihren Helfer mit der Frontlader-Schaufel aus ihrer Notlage befreien.
Das ist jetzt fast ein Jahr her. Wenn Helga und Wolfgang Justen von der Nacht des 14. Juli 2021 erzählen, klingen sie unfassbar ruhig. Nur die präzisen Details ihrer Schilderungen lassen erahnen: Die traumatischen Ereignisse haben sich tief eingebrannt in ihre Erinnerungen.
134 Menschen verloren in der Flutkatastrophe an der Ahr ihr Leben. Wie durch ein Wunder gab es im Dorf Fuchshofen, der Heimat der Justens, keine Todesopfer. Doch den Betrieb von Wolfgang Justen hat die Ahr fast vollständig zerstört. Von sechs Hallen und einem Güllesilo steht nur noch der ehemalige Kuhstall.
Ohne Strom und Wasser
Dort sitzen die Justens heute, fast ein Jahr nach der Flut, zusammen mit ihren Berufskollegen Günther Adrian und Jürgen Nelles sowie mit Franz-Josef Schäfer, dem Vorsitzenden des Kreisbauernverbandes Ahrweiler, und dessen Geschäftsführer, Dr. Knut Schubert.
Sie erzählen, wie sie die wohl schwerste Flutkatastrophe seit Bestehen der Bundesrepublik überstanden haben – und wie weit der Wiederaufbau gekommen ist. Jeder hat seine eigene Geschichte. Die Justens, die ihr Leben riskierten, um wenigstens ihre Mastbullen aus dem blitzschnell steigenden Wasser zu retten. Jürgen Nelles, dessen Milchviehstall im weiter flussabwärts gelegenen Ort Schuld durch seine höhere Lage zwar nicht überflutet wurde, der seine 80 Milchkühe jedoch wegen des Stromausfalls im ganzen Tal 36 Stunden lang nicht melken konnte. Das Wasser hatte sein Notstrom-Aggregat in einer tiefer gelegenen Halle zerstört. Jeder Landwirt kann sich vorstellen, was für eine Qual das für die Kühe bedeutete.
Mensch und Tier im Chaos
„Obwohl unser Kuhstall nicht abgesoffen ist, herrschte im Betrieb und im ganzen Dorf tagelang ein heilloses Chaos“, sagt Nelles. Die Bilder aus Schuld, das an einer Ahrschleife liegt, gingen bundesweit durch die Medien. Innerhalb einer Stunde lag der Ort in Trümmern. Sieben bis acht Meter hoch stapelten sich Bäume, Autos und allerlei Schutt in den Straßen und Gärten zu einem apokalyptischen Mikado. Noch heute verläuft die Landstraße über eine Notumfahrung durch einen ehemaligen Bahntunnel.
Landwirt Günther Adrian erlebte als Bürgermeister des Ortes Dorsel den grauenhaftesten Aspekt der Katastrophe, die zahlreichen Todesopfer. „Wir Landwirte haben gemeinsam mit der Freiwilligen Feuerwehr versucht, am Dorfrand das Wasser durch Sperren aus Siloballen einzudämmen“, erzählt Adrian. Vergeblich. Der Campingplatz der kleinen Gemeinde muss evakuiert werden. Das gelingt nicht rechtzeitig. Sieben Menschen ertrinken, darunter eine 18-jährige Feuerwehrfrau im Rettungseinsatz.
Wer ein Jahr später durch das Ahrtal fährt, sieht an vielen Orten noch die Spuren der Zerstörung. Brücken wurden weggerissen und nur zum Teil durch Behelfsbrücken ersetzt. Straßen, die Bahnlinie, Schulen und Krankenhäuser sind kaputt. Fast 200 Wohnhäuser hat das Wasser mitgerissen. Über 4.000 Gebäude sind beschädigt. Zahlreiche Häuser mussten wegen Einsturzgefahr abgetragen werden. Gigantische Schuttberge liegen noch immer an provisorischen Sammelplätzen. „Am ersten Wochenende nach der Flut wurden allein aus Schuld an zwei Tagen je 500 Sattelzüge an Schutt und Abfall abgefahren“, sagt Nelles.
Der Milchviehhalter ist beeindruckt von der großen Hilfsbereitschaft, die die Landwirte im Ahrtal – aber auch in den Flutgebieten im angrenzenden Nordrhein-Westfalen – von Berufskollegen erfahren haben. Aus ganz Deutschland trafen innerhalb weniger Tage zahlreiche Stroh- und Futterspenden ein. Firmen stellten Geräte und Ersatzteile kostenlos zur Verfügung. Wolfgang Justen bekam von einem Maschinenring einen mobilen Dieseltank geschenkt.
„Über verschiedene Organisationen haben betroffene Landwirte und ihre Familien viele Spenden erhalten“, sagt der BWV-Kreisvorsitzende Schäfer. Das Geld hat in vielen Fällen geholfen, die Kosten für Reparaturen oder Ersatzmaschinen zu stemmen.
Der Bund und die Länder Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen versprachen großzügige und unkomplizierte Hilfen. Doch wie so oft, ist die Wirklichkeit ernüchternd. Je mehr Zeit seit der Flutnacht vergeht, desto bürokratischer und komplizierter wird jeder Schritt zurück zur Normalität.
Flächen sind unbrauchbar
Die Landwirte an der oberen Ahr kämpfen jetzt vor allem um ihre Flächen. Die Flutwelle hinterließ auf Wiesen und Weiden große Mengen an Kies. Zäune und Teilflächen wurden vom Wasser weggerissen. Der Flussverlauf hat sich an einigen Stellen verändert. Hinzu kommt der verdichtete Boden. Die Bundeswehr fuhr mit schwerem Gerät kreuz und quer über das Grünland. Auf einigen Flächen wurden provisorische Sammel- und Trennplätze für Treibgut und Schutt eingerichtet.
Im ganzen Dorf herrschte tagelang ein heilloses Chaos.
Justen sagt: „Die Flächen sind teilweise unbrauchbar.“ Sie müssen von Treibgut befreit, der Kies muss herausgesiebt und Mutterboden muss aufgetragen werden. Laut Kreisverbandsgeschäftsführer Dr. Schubert ist die dafür festgelegte Wiederaufbausumme von 2.500 bis 3.000 Euro/ha häufig nicht ausreichend. „Die Faustzahlen passen nicht. Hier suchen wir mit der Verwaltung und dem zuständigen Ministerium noch nach passenden Lösungen“, erläutert Dr. Schubert.
Aber noch etwas anderes macht den Landwirten Sorgen: Die Struktur- und Genehmigungsdirektion (SGD Nord), die als obere Landesbehörde den Wiederaufbau durch die Kommunen unterstützen soll, zeigt Interesse am Kauf landwirtschaftlicher Flächen. Die Landwirte vor Ort fürchten, dass diese Flächen im Zuge des Besitzerwechsels dem Naturschutz zur Verfügung gestellt und der landwirtschaftlichen Nutzung entzogen werden. Dabei wirtschaften die Landwirte ohnehin bereits so umwelt- und naturschutzfreundlich, dass an der Ahr seltene Arten wie der Ameisenbläuling, eine gefährdete Schmetterlingsart, Orchideen oder der Eisvogel regelmäßig gesichtet werden.
Hinzu kommt: Die öffentliche Hand bietet geschädigten Grundstückseigentümern für ihre Flächen nur den aktuellen Marktwert. Der liegt weit unter den Bodenpreisen, die vor der Flutkatastrophe üblich waren. Somit müssen die Eigentümer beim Verkauf einen erheblichen Verlust realisieren.
Verwaltung ist überfordert
Doch auch die Wiederherstellung der Schäden an den Gebäuden verläuft nicht reibungslos. Wolfgang Justen hat seine Tiere, das heißt zwölf Mastbullen sowie eine 60-köpfige Mutterkuhherde, nach der Flutnacht verkauft. Er hätte die Tiere in dem wochenlangen Chaos und in dem zerstörten Stall nicht versorgen können. Eigentlich möchte der 57-Jährige jetzt nur möglichst rasch eine neue Maschinenhalle bauen. Ein dafür geeignetes, hochwassersicheres Grundstück hat er gekauft. Auch eine Hallenkonstruktion hat er bestellt. „Ich bekomme aber von der Verwaltung noch keine Baugenehmigung“, sagt Justen.
Die zuständige Kreisverwaltung Ahrweiler ist personell hoffnungslos unterbesetzt. Die zahlreichen zusätzlichen Anträge für den Wiederaufbau überfordern die Behörde vollkommen. Das Problem: Mit seiner Versicherung hat Justen sich über den Neubau an anderer Stelle geeinigt. Aber während die Entschädigung somit fixiert ist, steigen die Kosten für den Wiederaufbau mit jeder Woche der Verzögerung weiter in die Höhe.
In der Flut verlor Justen neben den meisten Gebäuden auch Siloballen im Wert von 36.000 Euro und Scheitholz für 10.000 Euro. Insgesamt schätzte ein Sachverständiger den Verlust an nicht versicherten Vorräten und Gebäuden auf fast 150.000 Euro.
Das Land hat eine Entschädigungsquote von 80 Prozent für nicht versicherte Schäden zugesagt. Doch wie für einen Landwirt typisch, hat Justen viele Schäden schon kurz nach der Katastrophe in Eigenleistung repariert. Das Dach der übriggebliebenen Halle hat er beispielsweise selbst abgedichtet. Versicherungsleistungen, Spenden und Reparaturen in Eigenleistung muss er nun aber für einen Entschädigungsantrag vom Gesamtschaden abziehen. „Meinen Antrag habe ich erstmal auf Eis gelegt“, sagt Justen.
Noch ein weiterer Umstand erschwert die Abwicklung: Justen will im Überflutungsgebiet nicht mehr neu bauen, obwohl das an dieser Stelle erlaubt wäre. Die neue Maschinenhalle soll auf höher gelegenem Gelände entstehen. Zudem wird sie baulich einfacher sein, als dies der alte Milchviehstall mit Güllekeller, Spaltenboden und Milchkammer war. Das senkt die Baukosten. Durch eine Entschädigung darf der Betroffene aber nicht bessergestellt werden. Auch hier steckt der Teufel im Detail.
Und so teilt Landwirt Justen eine Erfahrung, die derzeit viele Kollegen, Winzer, Handwerker und Hausbesitzer an der Ahr machen: Die anfangs zugesagte unbürokratische Hilfe war gut gemeint und großzügig dimensioniert. In der praktischen Umsetzung wird der Wiederaufbau aber mit jedem Monat komplizierter, den die Flutkatastrophe weiter zurückliegt. Es wird Jahre dauern, um wiederherzustellen, was in dieser einen Nacht zerstört wurde. ●
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