Landwirte machen Engpass zur Chance
Auf den Punkt
- Die Ukraine und Russland haben in den letzten Jahren große Mengen Senf angebaut.
- Bei deutschen Senfherstellern kommt es durch den Krieg zu Rohstoffengpässen.
- Landwirte in Thüringen haben schnell reagiert und Senf in ihre Anbauplanung aufgenommen.
Am Tag des russischen Einmarschs in die Ukraine, am 24. Februar, griff Julia Jungbeck-Ucar abends um 22 Uhr zum Smartphone und schrieb per Whatsapp einen Hilferuf. Die Nachricht ging an Sebastian Mahler von der Agrar GmbH Ziegelheim. Sie fragte an, ob der Landwirtschaftsbetrieb im größeren Stil Senfkörner für ihr Unternehmen anbauen könnte? Zwei Tage später kam Mahlers Zusage: „Wir bauen für euch Senf an.“
Julia Jungbeck-Ucar führt das mittelständische Unternehmen Altenburger Senf. Die 33-Jährige trägt einen dunklen Hosenanzug, darunter eine Bluse und eine lange, silberne Kette um den Hals – Business-Look. Im Gespräch wird jedoch schnell klar, dass sie unkonventionell denkt. Als größte Stärke des Unternehmens sieht sie die Kreativität. „Wenn nötig, dann entwickeln und produzieren wir ein Produkt in einer Woche.“
Das wird beim Blick in das Lager des Unternehmens deutlich. Dort stapeln sich auf Paletten verschiedenste Senfsorten: Scharfer Senf, Senf mit Bier, Senf mit Gin, Senf mit Pfeffer, Senf mit Knoblauch. Insgesamt sind es rund 300 verschiedene Produkte. Dass Senf in Deutschland ein knappes Gut wird, davon ist bei dem Mittelständler noch nichts zu sehen. Die Unternehmerin berichtet jedoch davon, dass Händler aus ganz Deutschland sie mit Anfragen kontaktieren. „Der Markt ist wie leergefegt“, sagt sie.
Der Ukraine-Krieg wirkt sich auch auf die Senfversorgung aus. Womit sich bisher kaum jemand in Deutschland beschäftigte: Russland und die Ukraine sind nicht nur große Lieferanten von Getreide und Pflanzenölen, sondern auch die wichtigsten Exporteure von Senfkörnern. Der Feinkostverband Kulinaria warnt vor „akuten Rohstoffengpässen und Lieferausfällen“. Auch Altenburger Senf ist betroffen. „Wir warten noch auf einen Lkw aus Russland mit 22 t, doch der kommt wohl nicht mehr“, sagt Jungbeck-Ucar.
Senfanbau spontan ausgeweitet
Bereits im Vorjahr hatte Jungbeck-Ucar mit dem Agrarbetrieb, der sich nur einige Kilometer vom Werk entfernt befindet, vereinbart, probeweise auf 7 ha Senf anzubauen. „Wir wollten schauen, ob wir auch in der Roh- stoffversorgung regionaler werden können.“ Aus 7 ha werden nun 30. Die erwartete Ernte von etwa 70 t würde knapp die Hälfte des Jahresbedarfs der Altenburger decken. Die andere Hälfte will die Thüringer Agrargesell- schaft Neunheilingen bereitstellen.
Die Agrar GmbH Ziegelheim hat ihren Sitz in einem eher unscheinbaren, gelbgestrichenen Flachbau. Mahler ist Aufsichtsratschef des Unternehmens und arbeitet bei einem Agrar-Versicherungsmakler. Der groß gewachsene Mann, der Jeans und ein olivfarbenes Hemd trägt, kennt sich mit Risiken also aus.
Nach der Entscheidung, künftig die Anbaufläche für Senf zu vervierfachen, musste schnell Senfsaat bestellt werden. „Es war gar nicht so einfach, welche zu bekommen“, berichtet Mahler. Ende März sei die Senfsaat in den Boden gekommen. „Das ist für uns in erster Linie keine wirtschaftliche Entscheidung“, sagt er. „Wir wollen damit ein wichtiges Unternehmen der Region unterstützen.“
Früher nur als Zwischenfrucht
Für den Senfanbau wurde auf einen Teil des Sonnenblumenanbaus verzichtet. Senf sei dem Raps ähnlich, erklärt Mahler, er werde mit den gleichen Maschinen ausgesät und geerntet. „Da die Pflanze nicht so anspruchsvoll ist, hoffen wir auf eine gute Ernte“, sagt er. Senf hat das Unternehmen bisher nur als Zwischenfrucht angebaut, um beispielsweise nach einer Weizenernte das Feld von Unkräutern freizuhalten. Kommerziell spielte die Ölfrucht für den Ziegelheimer Landwirtschaftsbetrieb bisher keine Rolle.
Natürlich gibt es beim Anbau Unwägbarkeiten. So fehlen dem Betrieb Erfahrungen mit Senfschädlingen. „Damit werden wir uns beschäftigen müssen.“ Dennoch: Die vergleichsweise kleine Senfanbaufläche von 30 ha ist für den Betrieb, der 1.150 ha bewirtschaftet, ein überschaubares Risiko.
Mehr Erfahrung mit dem Senfanbau hat der Biohof Marold. Bereits seit 15 Jahren baut der Betrieb aus Mittelsömmern in Thüringen auf 10 bis 15 ha Senf an, der an Senfmanufakturen vermarktet wird. Nach Worten von Landwirtin Johanna Marold eignet sich die Pflanze gut für den Öko-Landbau, da sie mit wenig Dünger auskommt.
Die Schädlingssituation sei sehr unterschiedlich. „Der Rapsglanzkäfer interessiert sich nicht für gelben Senf. Da hatten wir bisher keine Probleme.“ Anders sehe das beim braunen und schwarzen Senf aus. „Da kann ein Befall zum Totalausfall führen“, berichtet die Landwirtin.
In der konventionellen Landwirtschaft liegen nach Angaben des Thüringer Landesamtes für Landwirtschaft die Ertragsaussichten bei bis 2,5 t Senfkörner je Hektar. Zur Bekämpfung von Schädlingen seien Insektizide zugelassen. Es gebe etwa 50 verschiedene Gelbsenfsorten. Da sie sich in ertraglicher Hinsicht kaum unterschieden, sollte sich die Sortenwahl laut Experten in erster Linie nach den Anforderungen der abnehmenden Hand richten. Gleichzeitig lockert die Sommerölfrucht die getreidebetonten Fruchtfolgen auf und bringt positive Effekte bezüglich Bodenstruktur und Bodengare mit sich.
Hier fehlen 29.000 Tonnen Senf
Schnell auf regionale Lieferanten umsteigen können nach Ansicht von Markus Weck, Hauptgeschäftsführer des Feinkostverbands Kulinara, jedoch nur kleinere und mittelständische Senfanbieter: „Russland lieferte im vergangenen Jahr 21.600 t Senfkörner nach Deutschland, die Ukraine rund 7.400 t. Beide Länder zusammen stehen für 80 Prozent aller Importe“, erläutert Weck. Produktionszahlen für Deutschland liegen nicht vor. Laut Statistischem Bundesamt wurden 2021 in Deutschland auf 7.600 ha Ölfrüchte wie Senf, Mohn und Ölrettich angebaut. Daraus abgeleitet, dürften geschätzt maximal 10.000 t heimischer Senf auf den Markt gekommen sein.
Der große bayerische Hersteller Develey, zu dem unter anderem die Marken Löwensenf und Bautz‘ner gehören, bezieht seine Senfsaat nach eigenen Angaben unter anderem aus der Ukraine, Kanada und Deutschland. Aktuell sieht das Unternehmen die Versorgung gesichert und keine Probleme in der Produktion der Würzpaste. Allerdings sagte eine Firmensprecherin auch: „Mit der zu erwartenden deutlich geringeren Ernte im zweiten Halbjahr ist davon auszugehen, dass sich die Lage nochmals deutlich verschärft.“
Bisher wird der Markt noch über die Lagerbestände mit der Ernte 2021 versorgt. Sollten in diesem Jahr die Lieferungen aus Russland – ein Lieferstopp ist anders als beim Weizen noch nicht verhängt – und der Ukraine ausbleiben, rechnet Verbandsvertreter Weck mit „deutlich steigenden Preisen und auch Produktionsausfällen“. Dass die Regale im Supermarkt leer bleiben, davon geht er aber nicht aus. Denn auch osteuropäische Nachbarn wie Tschechien würden Senfkörner liefern.
Nach Ansicht von Biolandwirtin Marold sind die großen Senfhersteller für die schwierige Situation selbst verantwortlich. In der Vergangenheit habe man den Senf immer dort eingekauft, wo er am billigsten war. Regionale Lieferbeziehungen hätten kaum eine Rolle gespielt.
Engpass fördert Regionalität
Die Altenburger-Senf-Chefin will das für ihren Betrieb ändern. „Wir müssen jetzt abwarten, wie viel und in welcher Qualität wir Senf von unseren neuen Lieferanten bekommen“, sagt sie. Ihr Ziel sei es, „langfristig die Körner von Landwirten aus der Region zu kaufen – auch wenn es wieder Angebote aus Russland und der Ukraine gibt.“
Der Altenburger Senfhersteller soll auf allen Ebenen nachhaltiger arbeiten. Julia Jungbeck-Ucar erzählt, wie in den vergangenen Jahren die Plastikbecher weitgehend durch Glas ersetzt wurden. „Die Kunden haben es gut angenommen, auch wenn sie ein paar Cent mehr zahlen müssen.“
Ähnliches erwartet die Firmenchefin beim Umstellen auf regionale Rohstoffe. „Wenn die Verbraucher genau wissen, dass der Senf nicht nur in Altenburg produziert wird, sondern auch hier gewachsen ist, dann sind sie auch bereit, mehr Geld auszugeben“, ist Jungbeck-Ucar überzeugt.
Auch Mahler vom Ziegelheimer Agrarbetrieb ist an einer langfristigen Beziehung interessiert. „Ein Vertragsanbau ist für uns sehr interessant, weil wir dann mit verlässlichen Preisen kalkulieren können.“ Er freut sich schon auf die erste Ernte im Sommer und den daraus produzierten Senf. Beim künftigen Grillen gebe es dann: „Thüringer Bratwurst mit Altenburger Senf aus Ziegelheimer Senfkörnern.“ (jls) ●
Das müssen Landwirte bei der Beschäftigung von Geflüchteten beachten
Immer mehr Ukrainer kommen gerade in Deutschland an. Wie die Landwirtschaftskammer (LWK) Niedersachsen erklärt, gibt es eine Bereitschaft unter den Geflüchteten, für die Engpässe an Erntehelfern und Saisonarbeitskräften einzuspringen.
Anfang März hat die EU den vorübergehenden Schutz für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine beschlossen und erstmalig von der Massenzustrom-Richtlinie Gebrauch gemacht. Durch den Beschluss gilt in Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Die Geflüchteten haben demnach das Recht auf einen Aufenthaltstitel, auf medizinische Versorgung und auf den Zugang zu Arbeitsmarkt, Wohnraum, Bildungssystem und Deutschkursen. Durch den Schutzstatus müssen Ukrainer keinen Asylantrag stellen.
Erleichterungen nur für ukrainische Staatsangehörige
Bis den ukrainischen Staatsangehörigen eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt wird, bekommen sie laut LWK Niedersachsen eine sogenannte Fiktionsbescheinigung. Enthält diese den Vermerk „Erwerbstätigkeit erlaubt“, reicht sie für jede Form der Beschäftigung aus, auch für eine selbstständige Tätigkeit. Nach Ausstellung der Fiktionsbescheinigung wird der Aufenthaltstitel beantragt. Die Aufenthaltserlaubnis erlaubt dann auch das Absolvieren einer Ausbildung.
Eine Beschäftigung ist dagegen nicht möglich bei einer Duldung oder einer Aufenthaltsgestattung. Das kann zum Beispiel Personen betreffen, die vor ihrer Flucht zwar in der Ukraine gelebt haben, aber die ukrainische Staatsbürgerschaft nicht besitzen. Wenn die Beschäftigung eines (nicht ukrainischen) Geflüchteten untersagt ist, muss bei der zuständigen Ausländerbehörde eine Einzel- oder Sammelerlaubnis eingeholt werden. Darüber hinaus empfiehlt die Kammer, Papiere und Ausweise zu kopieren und einen Arbeitsvertrag abzuschließen. [jm, jls]
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